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Sehen

Sehen Erkenntnistheorie Unsichtbarkeit videre eidenai (εἰδέναι) Auge Sichtbarkeit theoria (θεωρία)9 122f 5425 10.24894/HWPh.5425Ralf KonersmannCatherine WilsonAstrid von der Lühe
(griech. εἰδέναι; lat. videre; engl. to see; frz. voir; ital. vedere; span. ver). Die philosophische Geschichte des S. ist die Geschichte seiner Ortsveränderungen in den Sinnbezirken des Denkens und des Wissens. Verlauf und Ausbreitung dieser Bedeutungshistorie sprengen den Rahmen einer strengen Begriffs- oder Disziplinengeschichte, wie sie sich etwa mit der Herausbildung der physikalischen Optik, der Physiologie des Auges, der künstlerisch-mathematischen Rekonstruktion des Wahrnehmungsraumes, der philosophischen Reflexion der Erkenntnis oder mit der psychologischen Beschreibung des Wahrnehmens und Empfindens anbieten. Die Rekonstruktion des semantischen Komplexes, wie er in den Texten und in den Sehwelten dokumentiert ist, steht vor der Herausforderung einer grundstellungsbedingten und für die gesamte Geschichte des Augensinns charakteristischen Weitläufigkeit der Bedeutungen [1].
I.Bedeutungsgeschichtliche Leitlinien. – Erstes Indiz der archetypischen Ubiquität des S. ist die Verwurzelung zahlreicher Begriffe der Erkenntnis, der Wahrnehmung und des Wissens im Feld der Verba videndi. Die «Okularität» [2] der europäischen Wissens- und Bewußtseinsgeschichte ist dokumentiert in Korrelaten wie ‹Ansehen›, ‹Schauen›, ‹Anschauen›, ‹Anblicken›, ‹Blicken›, ‹Wahrnehmen›, ‹Betrachten›, ‹Beobachten› (einschließlich der Nominalisierungen), gelegentlich auch ‹Sichten›, ‹Äugen›, ‹Spähen› oder ‹Starren›. Bei ‹Gesichtspunkt› und ‹Augenblick›, bei ‹Absicht›, ‹Ansicht›, ‹Einsicht›, ‹Übersicht› und ‹Weltsicht› ist der sprachgeschichtliche Verbund ebenfalls deutlich, und das nicht nur im Deutschen [3]. Verbreitung und Grundbeständigkeit legen es nahe, dem S. den Status einer «absoluten Metapher» im Sinne H. Blumenbergs[4] zuzuerkennen, die – theoretisch – einer offenen Welt Struktur gibt und darin – pragmatisch – Einstellungen und Orientierungen anbietet.
Vor den wechselnden Hintergründen der Bedeutungsgeschichte (Teil I) läßt sich die Genealogie der Sehtheorien in wissenschaftshistorischer Perspektive folgendermaßen skizzieren: a) Die älteren Theorien der visuellen Wahrnehmung gewinnen Kohärenz vorrangig durch die Orientierung am Paradigma des Sehstrahls (s. unten Teil II, Abschn. 1–2). Begriffsgeschichtlich folgenreich ist die Dissoziation von sinnlichem und geistigem S., von Blick und Schau (II, 3–5). – b) Die vorherrschende Orientierung an der θεωρία dürfte die Frage nach dem, was das S. sei, für lange Zeit blockiert haben. Die traditionellen Vorbehalte verlieren erst bei den arabischen Philosophen so weit an Einfluß, daß vergessene Einzelinitiativen aufgenommen und neue Impulse möglich werden (II, 6). – c) An der Epochenschwelle zur Neuzeit werden die Tendenzen der Optik einerseits, der metaphysischen Theorien des S. und des Sichtbaren andererseits vorübergehend harmonisiert und das sinnliche S. durch Inanspruchnahme für das geistige Schauen aufgewertet (II, 7). Indem das bis dahin kontrastiv eingesetzte Intelligibilitätsmoment nun in den Begriff des S. selbst einwandert, werden Sichtbares und Unsichtbares als Komplementärformeln faßbar. – d) Der Umbruch wird durch die im Rahmen einer emanzipierten physikalisch-physiologischen Rekonstruktion vollzogene Beschreibung des Sehvorgangs erleichtert, die R. Descartes von J. Kepler übernimmt. Die Angebote der apparativen Optik lassen das S. als komplexen Vorgang hervortreten, in dem das Sichtbare wie das Gesehene einerseits – bei der Erschließung der Gegenstandswelt – entproblematisiert und andererseits – bezüglich der Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse – als erklärungsbedürftig empfunden wird (III, 2). – e) Im Gefolge dieser Umstellungen entwickeln sich das optische Wissen und die Auffassungen vom S. fernerhin auf Spezialgebieten, die, indem sie ihren Fragestellungen nachgehen, auch ihre eigenen Problematiken und Terminologien ausbilden (III, 3–6).
1. Die Bedeutungsgeschichte des S. entfaltet sich im Spannungsfeld zwischen begrifflichem und übertragenem Wortgebrauch. Als «Vision» und «Schau der Wirklichkeit der Überwelt» [5] weist das S. in den ältesten Zeugnissen den Weg unvermittelter Teilhabe. Der charismatische, von der spekulativen Erfahrung der Unsagbarkeit getragene Vorgriff kann hier den Zustand eschatologischer Endgültigkeit, der im «videre per fidem» erstrebt wird [6], ebenso meinen wie die «augenblickliche» Berührung von Sinnlichem und Übersinnlichem [7]. Sichtbares und Unsichtbares können metaphysische Antagonismen repräsentieren, die einander unvermittelt gegenüberstehen. Dementsprechend verlangt der christliche Weg der Seligkeit einen Glauben, der seine Kraft dadurch beweist, daß er der Bestätigung durch das Zeugnis des Augenscheins nicht bedarf. Seit dem Sündenfall ist das tiefste Glaubensgeheimnis dem Blick entzogen [8].
Als besonders wirkungsvoll erwies sich in diesem Zusammenhang die Konkurrenz des Hörens [9]. Vorbereitet durch die althebräische Tradition, die dem S. allenfalls das Feld der Verifikation überläßt [10], hält diese Überlieferung den ‘Gehorsamʼ und das Vernehmen jenes Wortes in gedanklicher Reichweite, in dem das Proömium des ‹Johannesevangeliums› alles Geschaffene gegründet sein läßt. Wie hier exemplarisch geschehen, ist das vordem durch die Vorsokratiker geweckte Zutrauen in den Augenschein seither immer wieder in Frage gestellt worden. Der Einwand lautet, daß wahres Erkennen den Augen des Geistes vorbehalten sei. Es komme deshalb darauf an, das leibliche Auge abzuwenden oder rechtzeitig zu schließen. M. Luther trägt diesen Vorbehalt über die Schwelle zur Neuzeit, wenn er lehrt, das Reich Christi sei «ein hör Reich, nicht ein sehe Reich. Denn die äugen leiten und füren uns nicht dahin, da wir Christum finden und kennen lernen, sondern die ohren müssen das thun» [11]. Die damit vertiefte und auf lange Sicht das Koordinationsbestreben des aristotelischen Sensus communis [12] definitiv ablösende Konkurrenz der Sinne erleichterte die Anbahnung eines dualistischen Schemas. Das Unsichtbare ließ sich einmal zum Abwesenden radikalisieren, über das im Raum des Sichtbaren keine positive Auskunft zu bekommen ist, oder aber zum potentiell Sichtbaren entschärfen, das sich mit der Zeit enthüllen wird.
Wie sich zeigte, ist diese Alternative nicht nur theologisch brisant. Es macht sich darin ein bis auf die platonische Philosophie zurückreichendes Mißtrauen gegenüber den natürlichen Fähigkeiten des Gesichtssinns und seiner ganzen Sphäre geltend, das von Beginn an auch die darstellenden Künste einbezog, sofern diese den Bereich der Sichtbarkeit zu ihrem ausschließlichen Medium machen, um darin Sinnliches und Geistiges unentwirrbar zu vermengen. Abweichend von den Erwartungen der unmittelbaren Erfahrung nimmt die platonischaristotelische Tradition das Sichtbare nicht als das Fraglose hin, sondern unterwirft es dem Logos und ordnet es ihm nach. Die umgebende Welt soll gerade nicht als das anerkannt werden, was sie sichtbar, also dem oberflächlichen Eindruck und der Meinung nach, zu sein ‘scheintʼ [13]. Dementsprechend realisieren die Prinzipienlehren der philosophischen Abstraktion und die wissenschaftliche Erkenntnis ihr Bemühen um Allgemeinaussagen nicht als ‘Hinsehenʼ, sondern als ‘Absehenʼ [14]. Unter θεωρία faßt Platon neben ‹Erkenntnis› und ‹Einsicht› auch ‹Betrachtung› und ‹Schau› im bevorzugten Verständnis der distanzierten und unbetroffenen ‘Zuschauerschaftʼ [15], welche die Maßstäbe ihrer Einsicht an den überweltlichen, wortgeschichtlich mit dem S. verwandten ‘Ideenʼ besitzt [16]. Der lateinische Platonismus tradiert diesen Gedanken als «perspectio», «contemplatio», «visio» oder auch «intuitio» [17]. «Nicht dem Körper das Unkörperliche sicht- und greifbar zu machen, sondern das Körperauge durchsichtig und leitbar, durchdringbar dem Geiste, zu machen» [18], kann in Fortführung dieser Traditionslinie noch F. X. von Baader zum vornehmsten Anliegen des Philosophierens erklären. «Das Sichtbare ist unwahr und das Wahre ist unsichtbar, und es ist dem Geiste unmöglich, dieses unwahre Sichtbare für ein reines Zeugniss und Product des wahren Unsichtbaren zu erkennen» [19].
Man muß hier freilich beachten, wie stark die krasse Polarisierung bereits durch die zeitgenössische Krise des dualistischen Denkstils herausgefordert ist. Mit ausgesprochenem Vorbehalt gegen die Abstraktheit des philosophischen Begreifens und «Theoretisierens» in seinem ursprünglichen Wortsinn macht sich der Konventionsabbau bei den Physiognomikern [20], in den Schriften J. W. Goethes[21] und – philosophisch – in der nachfolgenden Generation bei L. Feuerbach bemerkbar. Demjenigen, der von den Jüngern der Philosophie traditionsbewußt verlangt, daß ihnen «zuerst das S. und Hören vergehen» müsse [22], antwortet Feuerbach mit einer anthropologisch begründeten Synthese aus S. und Denken: «Ich bin himmelweit unterschieden von den Philosophen», formuliert er unter Anspielung auf die Bergpredigt, «welche sich die Augen aus dem Kopfe reißen, um desto besser denken zu können; ich brauche zum Denken die Sinne, vor allem die Augen» [23]. Die in dieser Umkehrung der hergebrachten theoretischen Formation und ihrer idealistischen Steigerungen angebahnte Apotheose des Auges macht Baaders Bedrängnis offenkundig. Das einmal alarmierte Krisenbewußtsein kommt der Prägnanz seiner Replik jedoch zugute. Bedeutungsgeschichtlich ausschlaggebend ist, wie das Augenfällige in Baaders orthodoxen Pointierungen noch einmal als das Problematische vorgestellt und als dasjenige verstanden werden kann, was sich nicht von selbst versteht. Diese elementare Infragestellung durch den philosophischen Intellektualismus bestimmt die ganze Geschichte des S. bis hin zu Feuerbachs Einwürfen und noch darüber hinaus. Das Sichtbare ist das Unrechte und Unwahre, denn es kann – so paraphrasiert Blumenberg die elementare Negation – «nicht das Vernünftige sein» [24].
2. Zu den markantesten bedeutungsgeschichtlichen Leitlinien gehört denn auch die Beobachtung, daß der Augenschein für das philosophische Denken stets ein Auskunftsmittel von zweifelhaftem Wert geblieben ist. Gleichwohl galt die kontemplative Grundierung keineswegs unangefochten. Spätestens seit Tertullian[25] ist die theoretische Perspektive mit dem Einwand konfrontiert, sie bemerke nicht, was ihr vor den Füßen und ‘vor Augenʼ liegt. Die idealtypische Gegenfigur zu der apophantischen Sinnenverweigerung des philosophischen Intellektualismus ist der ἵστωρ, der in seiner älteren Wortbedeutung seit Aischylos und Herodot[26] beansprucht, das Vorfindliche erkundet und ‘in Augenschein genommenʼ zu haben. Er versteht sich dezidiert als ein Wissender und Augenzeuge, und was er zusammenträgt und erzählend ordnet, ist vornehmlich Gesehenes: «historia» [27].
Diesem Verständnis folgend, dehnen bereits die Geschichtsschreiber der Renaissance den Gegenstandsbereich der Memoria auf die Summe der jemals von Menschen gemachten Erfahrung aus. F. Patrizi und G. A. Viperano stellen die geschichtliche Darstellung vor die Aufgabe, dem Leser das von den voraufgegangenen Generationen Wahrgenommene und Erfahrene erneut vor Augen zu führen («ante oculos ponere») [28]. Die Bildhaftigkeit des Vorgewiesenen versteht sich als Konsequenz aus der essentiellen Unableitbarkeit des Einzelnen und Individuellen, das sich nur schildern, aber nicht unter Prinzipien bringen läßt. Die am S. orientierte «narratio» ist dezidiert rhetorisch, denn sie strebt nach fingierter Gegenwärtigkeit. Noch nach der Etablierung der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie und der Verzeitlichung des ‘Historischenʼ gibt das Ideal der Augenzeugenschaft dem Vorbehalt Ausdruck, daß der Weg über die konstruktiven Leistungen der Theorie niemals mehr sein dürfe als ein Mittel zum Zweck. Diese Vorstellung findet sich nicht nur in J. M. Chladenius' Theorie des «Sehe-Punktes» [29], sondern vor allem auch bei J. G. Herder, der neben dem Hören und Tasten das S. als das Ursprüngliche auffaßt, dem die systematisch angeleitete Erkenntnis gerade auch in der Geschichtsschreibung bloß kompensatorisch beispringt: «Nur seit dem man nicht mehr sehen kann und mag und also historisch nichts weiß, seit dem philosophirt man und macht Lehrgebäude» [30]. Visualisierte Geschichte mißt sich am Ideal der Wiederherstellung, sie strebt nach Sicherung des Erfahrenen und Erinnerten. Aus vergleichbaren Erwägungen kann der frühe Historismus die Geschichtsschreibung auf den «Weg zur Anschauung des Besonderen» [31] zurückführen wollen und erklären, es gebe zum Kennenlernen der einstigen Geschehnisse nur das eine Mittel, die einstigen Menschen zu ‘sehenʼ: «d'observer l'homme avec nos yeux, avec les yeux de notre tête» [32]. In den darstellenden Künsten hat diese Idealform einer zweiten Naivität im Verlauf des 19. Jh. ebenfalls Anhänger gefunden. Allein die Malerei gewährt für J. Ruskin die Attraktionen der Augenzeugenschaft und damit die Wahrhaftigkeit «of the one preceding word, ‘Vidiʼ» [33].
Die in der geschichtlichen Entwicklung niemals unstreitige Prädominanz des Auges ist bis weit in die Moderne hinein immer wieder behauptet und zu einem eigenen Topos der Bedeutungsgeschichte entwickelt worden. Im historischen Durchgang gilt es freilich zu unterscheiden. Während die Rede vom «Adel des Sehens» (H. Jonas) den Gesichtssinn durch die Leistungsmerkmale simultaner Darbietung, durch dynamische Neutralisation und Abstandwahrung ausgezeichnet glaubt [34], um am Privileg der Schau und der semantisch wiederum reich schattierten «Anschauung» [35] grundsätzlich festzuhalten, würdigen Geschichtsschreibung und Mnemotechnik, Rechtswesen und Dramentheorie, Rhetorik und Publizistik die ‘Augenzeugenschaftʼ traditionellerweise als die einprägsamste Art der Vergewisserung. Erster Konkurrent ist auch hier das Gehör. Seit Heraklit gelten die Augen als «schärfere Zeugen» (ἀκριβέστεροι μάρτυρες) [36], und diese Auffassung hat sich neben den Traditionslinien der θεωρία behaupten können. Die Rangordnung unterstellt nicht nur die Anrufbarkeit des Augensinns, sie knüpft daran auch die Erwartung eminenter Aufschlußkraft. Verglichen mit den Übermittlungsqualitäten des gesprochenen Wortes, verspricht Vi-sualität, auch simulierte Visualität, erhöhte Präsenz, größtmögliche Tatsachentreue, Authentizität und gesteigerte Eindrücklichkeit. Selbst das ‹Neue Testament› gründet die historische Glaubwürdigkeit der apostolischen Botschaft auf die Gewißheit, daß den Propheten – als den Augenzeugen – in Jesus Christus der unsichtbare Gott sichtbar geworden sei [37].
3. An derlei Zuspruchsbekundungen ließ sich anknüpfen, als diesseits der Epochenschwelle eine weitere bedeutungsgeschichtliche Leitlinie hervortrat, in der das S. erfolgreich gegen Hören und Lesen und damit überhaupt gegen den etablierten Typ literarisch präsenter Wahrheit ausgespielt wurde. Es zeigte sich, daß die Attraktionen der Sichtbarmachung nun nicht nur den Begriff des mit den Mitteln der endlichen Vernunft Ausmeßbaren veränderten, also die Vorstellungen der im Schein des natürlichen ‘Lichtsʼ [38] eröffneten ‘Horizonteʼ [39], sondern auch den Begriff des S. selbst. Dieser neue Begriff des S. ließ sich gegen einen Wahrheitstyp ins Feld führen, der sich auf ein Unsichtbares beruft, das, um es selbst zu bleiben, auch unsichtbar bleiben muß.
Die schon früh geäußerte, gelegentlich auch theorie- und traditionskritisch akzentuierte Berufung auf das Augenscheinliche und seine «Evidenz» [40] provoziert an der Wende zum 17. Jh. eine Sehkonzeption, deren Wahrnehmungsdaten unmittelbar der Erkenntnis dienen sollen. Für F. Bacon steht und fällt die Aussagekraft der «historia naturalis» mit der chancenreichen Selbstbeschränkung, daß man die Augen des Geistes niemals von den Dingen selbst abwende und ihre Bilder so einfach wahrnimmt, wie sie sind («siquis oculos mentis a rebus ipsis nunquam dejiciens, earum imagines plane ut sunt excipiat») [41]. Im Blick auf die Anekdote von der Thrakischen Magd gibt Bacon zu bedenken, daß auch im Bereich des Augenscheinlichen damit gerechnet werden dürfe, auf die Zeichen des Himmels zu stoßen [42]. In der einstweilen noch ausstehenden «Geistesgeschichte des Unsichtbaren» [43] markiert diese Sanktion eine Zäsur [44]. Das Unsichtbare kann nun als der dunkle und fernerhin aufzuklärende Raumvorrat einer endlichen und in diesem Sinne ausschreitbaren Welt gelten, der durch die Verbreitung des «lumen naturale» reduziert und früher oder später vollständig ausgeleuchtet werden kann. Die Legitimität der apparativen Ausstattung, der diese Umstellung zügig den Weg bahnt [45], beruht auf dem Bemerken, daß das manifeste S. die hypothetische Summe des überhaupt jemals Sichtbaren noch keineswegs erschlossen habe. Der forschende Blick ist denn auch nicht länger kontemplativ, sondern spontan. Er wird technisch im Verlauf seiner allmählich entproblematisierten Instrumentierung, aber auch dadurch, daß er die Dinge gezielt als optische Präparate aufnimmt. Aus dem von einer unvorgreiflichen Weltverbundenheit getragenen Vernehmen, das für das Weltverhältnis der Schau und den βίος θεωρητικός bezeichnend gewesen war, wird nun, unter dem Beistand der wiederholt herangezogenen Gerichtshofmetaphorik, eine Art Einvernahme. Befreit von Präsuppositionen und Interessen, soll der Blick die Vorbehaltlichkeit überwinden, die für den philosophischen Intellektualismus der Antike und des Mittelalters charakteristisch gewesen war [46], um «ad res ipsas» vorzudringen.
Mit dieser Wendung gewinnt die Ansichtigkeit der Dinge eigene Dignität. Nichts ist für diese Tendenz bezeichnender als die seit Bacons erfolgreichem Vorstoß bemerkbare Bereitschaft, die frühneuzeitlich erschütterte Festigkeit des Glaubens über die Unbezweifelbarkeit des Gesehenen und des im Sichtbaren sich Zeigenden wiederherzustellen. Als Bacon-Leser beruft sich J. A. Comenius auf den englischen Sensualismus, wenn er versichert, eine unvorgreifliche Harmonie gewährleiste die Offenbarung des Unsichtbaren durch das Sichtbare. Somit gelte die Regel, daß die Gesichtswahrnehmung als Beweis taugt: «Inspectio ocularis pro demonstratione est» [47]. Es ist diese Wertschätzung, die Comenius dann knapp dreißig Jahre später zur Herausgabe eines publizistisch überaus erfolgreichen Bilderbogens veranlassen wird, des ‹Orbis pictus›. Dessen deutschsprachiger Titel ist Programm: ‹Die sichtbare Welt, das ist Aller vornemsten Welt-Dinge und Lebens-Verrichtungen Vorbildung und Benahmung›.
Mit der Konvergenz von S. und Erkennen erweitert sich der Wissenserwerb zu einer Geschichte der – sei es durch Gesichtspunktverlegungen, sei es durch Apparate bewerkstelligten – Verschiebung von Sichtbarkeitsgrenzen. Im Anschluß an die Deutungshypothesen von G. Bachelard, A. Koyré und H. Blumenberg läßt sich das Aufkommen der optischen Instrumente am Beginn der Neuzeit als Materialisation von Denkweisen in Apparateform begreifen [48]. Gegen vielfältige Widerstände drängen sie den Weltbetrachter zur Anerkennung seiner exzentrischen Position. Zum Ausgleich locken die optimierten Sichtbedingungen mit der Erwartung einer bis an die Grenzen des Wirklichen getriebenen Erweiterung der Empirie. Indem das Mikroskop ungeahnte Einblicke in die «zweite Schatzkammer der Natur» (Ch. Huygens) gewährt und das Fernrohr für unüberwindlich gehaltene Distanzen zu «neuen Himmeln» (J. Glanville) im Nu überbrückt, erschließen beide neue Welten – in diesem Bewußtsein haben die ersten Anwender die doppelte Entgrenzung des natürlichen Sehfeldes aufgenommen und begrüßt.
Mit der Inblicknahme und der erwarteten Grenzenlosigkeit der apparativen Aufschlußgewährung kommt nicht nur ein Komplement des literarisch verbürgten Wissens zur Geltung, das S. kann sich ihm auch an Reichweite und Mannigfaltigkeit überlegen wähnen. Um dies zu erweisen, genügt der Hinweis darauf, daß stets mehr und anderes zu sehen ist, als sich wissen oder sagen läßt. Mit dem Zugeständnis der Disproportionalität und der schließlich durch die Ästhetik als neuer philosophischer Disziplin sanktionierten Emanzipation der sinnlichen Erkenntnis [49] verschieben sich endgültig die Akzente. Die herkömmliche Forderung, daß das Sichtbare in das begrifflich Ausweisbare zu übersetzen und diesem als dem exklusiven Validitätskriterium der Erkenntnis zu unterstellen sei, kann nun geradezu als Defekt einer Theorie ausgelegt werden, die angesichts der Uneinholbarkeit des Sichtbaren ihre Definität überschätzt und den ungehinderten Zugang zur Ansichtigkeit der Phänomene verstellt. «Philosophieren können sie alle», spottet G. Ch. Lichtenberg, «sehen keiner» [50].
4. Die Vorstellungen vom Optischen prägen die optisch vermittelten Vorstellungen – und umgekehrt. Zu den bedeutungsgeschichtlichen Leitlinien dieses Wechselverhältnisses gehört die seit den Vorstößen der ‘Historikerʼ immer wieder bemerkbare Tendenz zur Autonomie, die im 18. Jh. von Seiten der «Modernen» reflektiert und den Paradigmen der Vorgeschichte entgegengehalten wird. «Wir sehen mehr, als die Alten», formuliert G. E. Lessing 1769, «aber ihre Augen, überhaupt zu reden, möchten leicht schärfer gewesen sein, als unsere» [51]. Die allmählich zutage getretene Verschiedenheit der epochalen Sehkonzeptionen erregt den Verdacht, die in ihnen dokumentierten Weltverhältnisse könnten im Grunde unvergleichbar sein.
Das komplexe Gefüge einer reflexiv gewordenen Aggregation entsteht mit dem bereits von der Geschichtlichkeit des S. beeindruckten Entwurf F. Schillers. Unter ästhetischen Vorzeichen wird der von Lessing notierte Abstand nun als Überbietung faßbar und entdramatisiert. Die ‹Philosophischen Briefe› (1793/94) offerieren ihre rhapsodisch vergegenwärtigte Geschichte des S. als eine teleologische Geschichte zum S. und erklären, daß der durch die Entwicklung der Zivilisation hindurchgegangene, der gebildete Mensch «mit dem Auge zu genießen» und dem S. «einen selbstständigen Werth» beizumessen gelernt habe, um nun «ästhetisch frey» zu sein [52]. Exemplarisch in der Mannigfaltigkeit seiner Bezüge, führt dieser Entwurf anthropologische, ästhetische, bildungs- und geschichtsphilosophische Aspekte zu neuer Prägnanz zusammen. Tatsächlich ist die Idee, daß die Tätigkeit des Auges ein «Erzeugen» [53] sei, eine begriffsgeschichtliche Spätform, die auf vielfältige Weise mit den philosophischen Ästhetiken der Epoche kommuniziert. Die Konkurrenz zur Vorstellung eines neutralen, inhaltsindifferenten S. und Beobachtens, wie es die Sensualisten in den zeitgenössischen Aktivitäten der diversen «Observateurs de l'homme» [54] konzipieren, spielt hier ebenso hinein wie der frühe Anklang einer auf die Eigenwertigkeit des S., auf die «Unschuld des Auges» zulaufenden Auffassung, wie sie sich dann in den Proklamationen der künstlerischen Moderne wiederholt zu Wort meldet: «the innocence of the eye», wie Ruskin erläutert, «that is to say, of a sort of childish perception of these flat stains of colour, merely as such, without consciousness of what they signify, – as a blind man would see them if suddenly gifted with sight» [55].
Im Gefolge dieser Umstellungen wenden sich die Sehkonzeptionen des 19. Jh. verstärkt der Malerei zu, um an ihr paradigmatisch den dann von E. Husserl so bezeichneten «Logos der ästhetischen Welt» [56] aufzuweisen. Nach dem Verfall der klassizistischen Kunstdoktrinen und dem Rückzug der philosophischen Ästhetik kommt es nun zu einer teils wissenschaftlich, teils künstlerisch angeleiteten Neubelebung des Interesses an der Phänomenwelt der «Farbe» [57]. Auf dem Übergangsfeld von Aisthesis und Ästhetik bewegen sich neben der Phänomenologie, deren Anregungen dann von H. Plessner in seiner ‹Anthropologie der Sinne› [58] und insbesondere von M. Merleau-Ponty aufgenommen und philosophisch weitergeführt werden [59], auch die in der ersten Jahrhunderthälfte auflebenden Kunsttheorien und – teilweise in expliziter wechselseitiger Bezugnahme – einzelne Sparten der Psychologie[60] und der Soziologie[61].
Bedeutungsgeschichtlich zeigt sich diese Akzentverschiebung in der zunehmenden und zunehmend anerkannten Bekundung der Autonomie, in der vielfältig variierten These von der Eigenkraft des S. und der Irreduzibilität des Sichtbaren. Diese Auffassung will jene rezeptiven Befangenheiten überwinden, wie sie einem S. zukommen, das in der Nachfolge des Imitatio naturae-Gedankens auf seine «wiedererkennenden» Funktionen zurückgenommen ist. Das emanzipierte, das «sehende S.» [62] begreift sich demgegenüber als spontan und produktiv, als eine Realisation, in der das S. immer auch etwas sehen läßt. Paradigmatisch gibt – nach der vielbeachteten «Schöpferischen Konfession» von P. Klee – die Malerei «nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar» [63].
Darin aber liegt, daß die moderne Entbindung des S. keineswegs als vorbehaltlose Sanktion des reinen Augenscheins zu nehmen ist. Das S. ist aufs neue eine Leistung der Distanz. Als Resultat eines offenen und nur dem eigenen Gesetz unterworfenen Geschehens verschließt sich dem Betrachter das künstlerisch sichtbar Gemachte zu neuer Opazität, deren künstlerische Manifestationen und Darstellungsweisen wiederum H. Wölfflin zu einer eigenen «Geschichte des S.» zusammenführen möchte [64]. Dabei steht der Analytiker, nach den Worten K. Fiedlers, vor den «unendlichen Prozessen» einer immanenten «Ausdrucksbewegung», und ihm ist klar, «daß auch ein sichtbarer Gegenstand eben dieser seiner Sichtbarkeit nach uns als ein zu endgültiger Entwickelung gelangtes Gesichtsbild so ohne weiteres nicht angehören könne» [65]. Diese Einsichten sind im 20. Jh. breit rezipiert und weitergeführt worden. Der Wahrnehmungstheoretiker R. Arnheim entwickelte die These von der «Intelligenz des Auges» [66], die von der Hermeneutik des S. grundsätzlich bestätigt wird. G. Boehm spricht von einer «spezifischen Luzidität» des Auges [67], dessen Aktivität sich nicht darauf beschränkt, Fakten bloß passiv zu registrieren und Wahrgenommenes als Gewußtes und Bekanntes zu bestätigen. Vielmehr baut es aktiv Korrespondenzen auf und stellt auf genuine Weise Kontexte des Sichtbaren her. Der Übergang von der Sinnlichkeit des S. zum S. des Sinns vollzieht sich sonach als Übergang vom S. zum «S. als» [68]. Mit diesen Überlegungen bestätigt die Auffassung des «sehenden S.» die These einer irreduziblen Erkenntnisbegabung des Augensinns, die zu Jahrhundertbeginn bereits den Kreis um A. Warburg zur Proklamation der «Menschenrechte des Auges» angeregt hat [69]. Die kunsthistorisch belehrte Psychologie der bildlichen Darstellung bekräftigt ihrerseits den enthierarchisierten, gleichwohl die spezifische Differenz bewahrenden Zusammenhang von S. und Wissen. Die zumeist an Beispielen aus der bildenden Kunst vorgenommenen Untersuchungen über die Konventionen bildlicher Darstellung entkräften das einst bei der Kritik des Illusionismus so wirkungsvolle Radikal. E. Gombrich formuliert den Widerruf, wenn er erklärt: «The innocent eye is a myth» [70].
5. Das produktive Mißverständnis des «unschuldigen Auges» fällt in eine Zeit des hypertrophen Bilder-S. und des Spiegelblicks [71]. Es macht sich darin, als weitere bedeutungsgeschichtliche Leitlinie, ein Hang zur Entgrenzung des Ästhetischen bemerkbar, der auch in den neueren und neuesten Diskussionen der Wahrnehmungsgeschichte und Ästhetik thematisch ist.
Der theoretische Impuls hat seine Entsprechungen in den Umgestaltungen und Wahrnehmungsverschiebungen der modernen Industriewelt. Auf dem Umweg über eine kunsttheoretisch angeleitete, ihrem Selbstverständnis nach indes exoterische «Erziehung zum S.» wird von kunstgewerblicher Seite die arrivierte Wahrnehmung und Gestaltung des industriekulturellen Alltags unter dem Stichwort einer «Neuen Optik» proklamiert. Wenn S. Giedion das S. als «moralische Einstellung» [72] bestimmt, dann ist hier schon längst nicht mehr an eine sichtbare Welt gedacht, die zur unbefangenen Umschau einlädt, sondern an eine Umgebung, in der das, was zu sehen ist, immer schon zu sehen gegeben ist. Ebendies gibt Anlaß zur Kritik. Die Moralisierung des S. antwortet auf die Umgestaltung des Gesichtskreises zum Präparat einer «fremdwilligen Optik» [73], auf die kulturelle Universalisierung des «Spektakels» [74].
Der schon in der Romantik in die Perspektive der Kulturkritik gerückte «despotism of the eye» (S. T. Coleridge) [75] ist inzwischen zu einem eigenen Topos der Kultur- und der Mediengeschichte geworden [76], die das Aufkommen von Blickkontrolle und visueller Disziplinierung auf den Spuren der Zivilisationsentwicklung zurückverfolgt [77]. Die in der Mitte des 19. Jh. einsetzende Technisierung des Bildes veränderte Wahrnehmung (Aufnahme) und Darstellung (Wiedergabe), indem sie spektakulär veränderte Sehwelten entstehen ließ [78]. Seither mehren sich die Widerstände gegen die Universalisierung des optischen Konformismus. Die kritische, vielfältige Bedenken und Befürchtungen resümierende Metapher der «Sehmaschine» («machine de vision») [79] spielt an auf die durch neuere und neueste Technologien ermöglichte Automatisierung der Wahrnehmung, also die rechnergestützte Konzeption und Steuerung synthetischer Sinneswelten, auf die fortschreitende Ersetzung instrumenteller Sehhilfen durch Bildwiedergabegeräte und schließlich auf die Verdrängung des direkten S. durch den am künstlichen S. geschulten «skopischen» oder auch «industrialisierten» Blick.
Die Bedenken geben der Besorgnis Ausdruck, daß die für gewöhnlich unterhalb der Artikulationsschwelle und infolgedessen ohne reelle Besinnungschance vollzogenen Umstellungen der Sehweisen und Sehräume, wie sie der kritische Vergleich mit der griechischen Sehkultur exemplarisch hervortreten läßt [80], irreversibel und unaufhaltsam seien. Solche Infragestellung des Augensinns nimmt Traditionen auf, die schon frühzeitig zum Bestandteil seiner Bedeutungsgeschichte geworden sind. Die spätestens bei Ruskin auch explizit vollzogene Einbeziehung des S. in die Emanzipationstragödie bestätigt das Weiterwirken der bereits mit dem Auseinandertreten von S. und Schauen etablierten Kritik. Im Bewußtsein der verschobenen Hintergründe läßt sich dieses Potential auch fernerhin philosophisch fruchtbar machen. Die durch die Emphatisierungen des S. geweckten Zweifel an der «Behaglichkeit im theoretischen Gehege» [81] lassen sich gerade dann nicht beruhigen, wenn man gegenwärtig hat, wie entschieden sich die θεωρία einmal von den Sinnbezirken des Sinnlichen lossagte, aus denen sie hervorging. Die Herausforderungen des S. betreffen das traditionelle Ordnungsgefüge der Beschreibungs- und Verstehenspotentiale, wie sie die Theorien der Wahrnehmung und namentlich die Ästhetik bereitstellen, und mit ihnen den Anspruch und den Status der philosophischen Terminologie.
[1]
Vgl. G. Boehm: S. Hermeneut. Reflexionen. Int. Z. Philos. 1 (1992) 50–67, bes. 52.
[2]
P. Yorck von Wartenburg: Bewußtseinsstellung und Gesch. Ein Fragment aus dem philos. Nachl. [1897], hg. I. Fetscher (1956, 21991) 13. 114f. 132f. u.ö.
[3]
Vgl. F. Bechtel: Ueber die Bezeichnungen der sinnl. Wahrnehmungen in den indogerman. Sprachen. Ein Beitr. zur Bedeutungsgesch. (1879) 157ff.; L. Weisgerber: Vom Weltbild der dtsch. Sprache (21953) 144f.; E. Penttilä: The old English verbs of vision (Helsinki 1956).
[4]
H. Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Arch. Begriffsgesch. 6 (1960) 7–142, bes. 8ff.; vgl. auch: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, in: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher (1979) 75–93.
[5]
E. Benz: Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt (1969) 641; vgl. 313ff.
[6]
Vgl. Th. Rentsch: Der Augenblick des Schönen. ‘Visio beatificaʼ und Gesch. der ästhet. Idee, in: H. Bachmaier/Th. Rentsch (Hg.): Poet. Autonomie? Zur Wechselwirkung von Dichtung und Philos. in der Epoche Goethes und Hölderlins (1987) 329–353; vgl. Art. ‹Anschauung Gottes›. Hist. Wb. Philos. 1 (1971) 347–349.
[7]
Vgl. Art. ‹Augenblick›. Hist. Wb. Philos. 1 (1971) 649f.
[8]
1. Joh. 20, 29; vgl. Hebr. 11, 1; 1. Kor. 2, 9; 2. Kor. 4, 18.
[9]
Vgl. Th. Bomann: Das hebr. Denken im Vergleich mit dem griech. (51968) 181; J. Z. Lauterbach: The belief in the power of the word. Hebrew Union College Ann. 14 (1989) 287–302; M. Riedel: Hören auf die Sprache. Die akroamat. Dimension der Hermeneutik (1990); P. Utz: Das Auge und das Ohr im Text. Lit. Sinneswahrnehmung in der Goethezeit (1990).
[10]
Vgl. J. Taubes: Abendländ. Eschatologie (1947) 15ff.; vgl. H.-J. Kraus: Hören und S. in der althebr. Trad. Stud. Gen. 19 (1966) 115–123, bes. 120.
[11]
M. Luther: Pr., in Merseburg geh., 6. Aug. 1545. Weim. Ausg. 51, 11; vgl. 2. Kor. 5, 7; vgl. W. J. Ong: The presence of the word. Some proleg. for cultural and relig. hist. (New Haven 1967) 179ff.
[12]
Vgl. Art. ‹Sensus communis›.
[13]
Vgl. Art. ‹Schein›. Hist. Wb. Philos. 8 (1992) 1230–1249.
[14]
Vgl. Art. ‹Abstraktion›, a.O. 1 (1971) 42–65.
[15]
Vgl. J. Ritter: Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Arist. (1953); H. Koller: Theoros und Theoria. Glotta 36 (1958) 273–286; H. Rausch: Theoria. Von ihrer sakralen zur philos. Bedeut. (1982) 48ff.
[16]
Vgl. Art. ‹Idee›. Hist. Wb. Philos. 4 (1976) 55–134.
[17]
Vgl. Art. ‹Intuition›, a.O. 524–540; ‹Kontemplation›, a.O. 1024; ‹Perspektive, Perspektivismus›, a.O. 7 (1989) 363–377.
[18]
F. X. von Baader: Br. an F. H. Jakobi (19. 6. 1806). Sämtl. Werke, hg. F. Hoffmann/J. Hamberger 15 (1857, ND 1963) 202.
[19]
Br. an Jakobi (3. 1. 1798), a.O. 177.
[20]
Vgl. G. Mattenklott: Der übersinnl. Leib. Beitr. zur Met. des Körpers (1982); M. Titzmann: Bem. zu Wissen und Sprache in der Goethezeit (1770–1830). Mit dem Beispiel der opt. Kodierung von Erkenntnisprozessen, in: J. Link/W. Wülfing (Hg.): Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstud. zum Verhältnis von elem. Wissen und Lit. im 19. Jh. (1984) 100–120; Th. Leinkauf: Kunst und Reflexion. Unters. zum Verhältnis Ph. O. Runges zur philos. Trad. (1987); C. Kestenholz: Die Sicht der Dinge. Metaphor. Visualität und Subjektivitätsideal im Werk von K. Ph. Moritz (1987); K. Weisrock: Götterblick und Zaubermacht. Auge, Blick und Wahrnehmung in Aufklärung und Romantik (1990); J. Saltzwedel: Das Gesicht der Welt. Physiognom. Denken in der Goethezeit (1993); vgl. Art. ‹Physiognomik, Physiognomie›. Hist. Wb. Philos. 7 (1989) 955–963.
[21]
Vgl. J. W. Goethe: Entwurf einer Farbenlehre, Didakt. Teil, Vorw. [1806]. Hamb. Ausg. 13, 316f.; dazu: H. von Einem: Das Auge, der edelste Sinn, in: Goethe-Stud. (1972) 11–24; R. P. Newton: Eye symbolism and German poetry. Coll. germanica 16 (1983) 97–130; A. Schöne: Goethes Farbentheol. (1987); R. Konersmann: Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts (1991) bes. 175–235.
[22]
G. W. F. Hegel: Über den Vortrag der Philos. auf Gymnasien (1812). Werke, hg. E. Moldenhauer/K. M. Michel (1969–79) 4, 413; vgl. J. Simmen: Kunst-Ideal oder Augenschein. Ein Versuch zu Hegels Ästhetik (1980).
[23]
L. Feuerbach: Das Wesen des Christentums (1841). Ges. Werke, hg. W. Schuffenhauer (1967ff.) 5, 14f.; vgl. J. Manthey: Wenn Blicke zeugen könnten. Eine psychohist. Stud. über das S. in Lit. und Philos. (1983); R. Konersmann: Phantasma des Spiegels. Feuerbachs Umkehrung der Spekulation. Arch. Begriffsgesch. 28 (1984) 179–200, bes. 189ff.
[24]
H. Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgesch. der Theorie (1987) 29.
[25]
Tertullian: De anima 6, 8; vgl. Platon: Theaet. 174 a f.; dazu: Blumenberg, a.O. 20. 37 u.ö.; vgl. Art. ‹Spectator caeli›.
[26]
Vgl. W. Luther: Wahrheit, Licht und Erkenntnis in der griech. Philos. bis Demokrit. Ein Beitr. zur Erforsch. des Zus. von Sprache und philos. Denken. Arch. Begriffsgesch. 10 (1966) 1–240, bes. 86ff.
[27]
Vgl. E. Benveniste: Le vocab. des instit. indo-europ. (Paris 1969) 2, 174f.; B. Snell: Der Weg zum Denken und zur Wahrheit. Stud. zur frühgriech. Sprache (1978) 36ff.; dazu kritisch: E. D. Floyd: The sources of Greek Ἵστωρ, ‘Judge, Witnessʼ. Glotta 68 (1990) 157–166, bes. 160; vgl. Art. ‹Geschichte›. Hist. Wb. Philos. 3 (1974) 344–399.
[28]
Vgl. G. A. Viperano: De scribenda historia lib. (Antwerpen 1569) 37f. 60f.; vgl. E. Kessler: Theoretiker humanist. Gesch.schreibung. ND exemplar. Texte aus dem 16. Jh. (1971) 27.
[29]
Vgl. Art. ‹Perspektive, Perspektivismus›, a.O. [17] 366.
[30]
J. G. Herder: Denkmahl J. Winkelmanns. Sämmtl. Werke, hg. B. Suphan 8 (1877) 467; vgl. A. Assmann: Auge und Ohr. Bem. zur Kulturgesch. der Sinne in der Neuzeit. Yearbook religious Anthropol. (1994) 142–160, bes. 152ff.
[31]
L. von Ranke: Die großen Mächte. Polit. Gespräch (1955) 57.
[32]
H. Taine: Hist. de la litt. angl. 1 (Paris 1877) V.
[33]
J. Ruskin: The stones of Venice III. Works, hg. E. T. Cook/A. Wedderburn 11 (London 1904) 49.
[34]
H. Jonas: Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philos. Biol. (1972) 198ff. 218f.
[35]
Vgl. H.-G. Gadamer: Anschauung und Anschaulichkeit. Neue Hefte für Philos. 18/19 (1980) 1–14; P. Bürger: Zur Geschichtlichkeit von Anschauung/Anschaulichkeit als ästhet. Kategorie, in: W. Oelmüller (Hg.): Koll. Kunst und Philos. (1981) 41–49; vgl. Art. ‹Anschauung›. Hist. Wb. Philos. 1 (1971) 340–347.
[36]
Heraklit: Frg. 22, B 101 a. VS 1 (81956) 173 (im selben Sinn: B 55, a.O. 162; vgl. aber: B 46. 56, a.O. 161. 163); vgl. Horaz: De arte poet. v. 180ff.; vgl. Plautus: Truculentus v. 489; Erasmus von Rotterdam: Adagia, chil. II, cent. VI, 54 (1500, 21515). Op. omn., F. Heinimann/E. Kienzle 2 (Amsterdam 1987) 60f.; zur Mnemotechnik vgl. F. A. Yates: The art of memory (London 1966); dtsch.: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare (1990) 34ff. 83ff.; zur Jurisprudenz vgl. H. Schneickert: Art. ‹Augenschein›, in: Handwb. der Rechtswiss. 1 (1926) 401ff.; U. Kornblum: Art. ‹Blickender Schein›, in: Handwb. zur dtsch. Rechtsgesch. 1 (1971) 452ff.; zur Rhetorik vgl. J. G. Pankau: Art. ‹Augenzeugenbericht›, in: Hist. Wb. der Rhetorik, hg. G. Ueding 1 (1992) 1259ff.
[37]
Vgl. 1. Joh. 1–4; vgl. M. Barth: Der Augenzeuge. Eine Unters. über die Wahrnehmung des Gottessohnes durch die Apostel (1946) 59ff.
[38]
Vgl. Art. ‹Licht›. Hist. Wb. Philos. 5 (1980) 282–289; Art. ‹Lumen naturale›, a.O. 547–552.
[39]
Vgl. A. Koschorke: Die Gesch. des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in lit. Landschaftsbildern (1990); vgl. Art. ‹Horizont›. Hist. Wb. Philos. 3 (1974) 1187–1206.
[40]
Vgl. Art. ‹Evidenz›. Hist. Wb. Philos. 2 (1972) 829–834.
[41]
F. Bacon: Instauratio magna, Distrib. operis (1620). Works, hg. J. Spedding u.a. (London 1857–74) 1, 145; vgl. a.O. 4, 32f.
[42]
Vgl. De augm. scient. II, 2 (1623), a.O. 1, 499.
[43]
H. Blumenberg: Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit, in: G. Galilei: Sidereus Nuncius, hg. H. Blumenberg (1965, 1980) 16.
[44]
Vgl. R. Konersmann: Der Schleier des Timanthes. Stud. zur hist. Semantik (1994) 58ff. 78ff.
[45]
Vgl. E. Weigl: Instrumente der Neuzeit. Die Entdeckung der mod. Wirklichkeit (1990) 25ff.
[46]
Vgl. Art. ‹Idol›. Hist. Wb. Philos. 4 (1976) 188–192.
[47]
J. A. Comenius: Didactica magna. Op. didact. omn. (1657, Prag 1957) 1, 116; dtsch.: Große Didaktik, hg. A. Flitner (71992) 138.
[48]
Vgl. G. Bachelard: La formation de l'esprit scient. Contrib. à une psychanal. de la connaiss. objective (Paris 1938); dtsch.: Die Bildung des wiss. Geistes. Beitr. zu einer Psychoanalyse des objekt. Geistes (21984) 33; A. Koyre: L'apport scient. de la renaissance. 15ème semaine de synthèse (Paris 1951); dtsch.: Galilei. Die Anfange der neuzeitl. Wiss. (1988) 93f.; H. Blumenberg: Die Genesis der kopernik. Welt (1981) 714ff.; C. Wilson: The invisible world. Early modern philos. and the invention of the microscope (Princeton 1995).
[49]
Vgl. Art. ‹Ästhetik›. Hist. Wb. Philos. 1 (1971) 555–580.
[50]
G. Ch. Lichtenberg: Sudelbücher E 368 (1775/76). Schr. und Br., hg. W. Promies 1 (1968, 31980) 425.
[51]
G. E. Lessing: Br. antiquar. Inhalts II (1769). Sämtl. Schr., hg. K. Lachmann 10 (1894) 388.
[52]
F. Schiller: Ueber die ästhet. Erz. des Menschen in einer Reihe von Br. 26 (1795). Nat.ausg. 20, 400.
[53]
a.O.
[54]
Vgl. S. Moravia: La sci. dell'uomo nel settecento (Bari 1970) 80ff.; dtsch.: Beobachtende Vernunft. Philos. und Anthropol. in der Aufklärung (1973, 1989) 64ff.
[55]
Vgl. J. Ruskin: The elements of drawing, a.O. [33] 15, 27.
[56]
E. Husserl: Formale und transz. Logik (1929) 257. Husserliana 17 (Den Haag 1974) 297; vgl. T. Ogawa: «Seeing» and «Touching» or overcoming the soul-body dualism. Phenomenology Inform. Bulletin 4 (1980) 37–57 sowie B. Liebsch: «Eine Welt von Konsequenzen ohne Prämissen ...». Ein Nachtrag zur Gesch. des Theorems vom unbewußten Schluß. Arch. Begr.gesch. 34 (1991) 326–367.
[57]
Vgl. M. Imdahl: Farbe. Kunsttheoret. Reflexionen in Frankreich (1987); vgl. Art. ‹Farbe›. Hist. Wb. Philos. 2 (1972) 908–910; Art. ‹Farbenlehre›, a.O. 910f.
[58]
Vgl. H. Plessner: Anthropol. der Sinne (1970). Ges. Schr., hg. G. Dux u.a. 3 (1980) bes. 333ff.; Zur Hermeneutik des nichtsprachl. Ausdrucks (1967), a.O. 7, 459ff.
[59]
Vgl. M. Merleau-Ponty: L'œil et l'esprit. Art de France 1 (1961) 187–208; dtsch.: Das Auge und der Geist, hg. H. W. Arndt (1984); Le visible et l'invisible (Paris 1964); dtsch.: Das Sichtbare und das Unsichtbare, hg. C. Lefort (1986).
[60]
Vgl. unten: IV.
[61]
Vgl. G. Simmel: Exkurs über die Soziol. der Sinne (1908). Ges.ausg., hg. O. Rammstedt (1989ff.) 11, 722–742; vgl. M. Argyle/J. Dean: Eye-contact, distance and affiliation. Sociometry 28 (1965) 289–304; A. Strebling: S. und Nichtgesehenwerden. Soziolog. Blickwinkel, in: K. Plake (Hg.): Sinnlichkeit und Ästhetik. Soz. Muster der Wahrnehmung (1992) 72–99; zum «soziolog. S.» als Methodenproblem vgl. H. Freyer: Einl. in die Soziol. (1931) 13–20; N. Luhmann: Soziolog. Aufklärung 5 (21993) 228f.
[62]
Vgl. M. Imdahl: Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik (21988) 89ff.; B. Waldenfels: Ordnungen des Sichtbaren, in: G. Boehm (Hg.): Was ist ein Bild? (1994) 233–252; ähnlich bereits: M. Raphael: Wie will ein Kunstwerk gesehen sein? (The demands of art) (1930, 1968). Werke, hg. H.-J. Heinrichs 6 (1989) 8ff.
[63]
P. Klee: Schöpferische Konfession (1918). Schr., Rez. und Aufs., hg. Ch. Geelhaar (1976) 118.
[64]
H. Wölfflin: Kunstgeschichtl. Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst (1915, 51921) 10; kritisch dazu: E. Panofsky: Das Problem des Stils in der bildenden Kunst (1915). Aufs. zu Grundfragen der Kunstwiss., hg. H. Oberer/E. Verheyen (1964, 21974) 19–27.
[65]
K. Fiedler: Über den Ursprung der künstl. Tätigkeit (1887). Schr. zur Kunst, hg. G. Boehm (21991) 1, 111–220, hier: 145.
[66]
R. Arnheim: Anschaul. Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff (1972) 24ff. 45ff.; vgl. Kunst und S. Eine Psychol. des schöpf. Auges (1965); Zauber des S. (1993).
[67]
Boehm, a.O. [1] 67; vgl. Bildsinn und Sinnesorgane. Neue Hefte Philos. 18/19 (1980) 118–132, bes. 120; Bild versus Wort, in: G. Hauff u.a. (Hg.): In Erscheinung treten. H. Barths Philos. des Ästhet. (1990) 261–273, bes. 266f.
[68]
Vgl. Art. ‹Sehen als›.
[69]
Vgl. W. Hofmann/G. Syamken/M. Warnke: Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg (1980) bes. 85ff.
[70]
E. H. Gombrich: Art and illusion. A study in the psychol. of pictural represent. (Oxford 51977) 298; dtsch. (1978) 335; vgl. Medit. on a hobby horse (Oxford 1963) 9; N. Goodman: Languages of art. An approach to a theory of symbols (Indianapolis 1968) 7; dtsch. (1973) 19.
[71]
Vgl. Art. ‹Spiegel›.
[72]
S. Giedion: ‘Erziehung zum S.ʼ (1931), in: Wege in die Öffentlichkeit. Aufs. und unveröff. Schr. aus den Jahren 1926–1956, hg. D. Huber (1987) 20; vgl. a.O. 43ff.
[73]
H. Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philos. Begriffsbildung. Stud. Gen. 10 (1957) 432–447, bes. 447.
[74]
G. Debord: La société du spectacle (Paris 1967); dtsch. (1978) 10f.
[75]
S. T. Coleridge: Biographia lit. [1817]. Coll. ed., hg. K. Coburn u.a. (London/New York 1967ff.) 7, 107.
[76]
Vgl. O. Fenichel: Schautrieb und Identifizierung. Int. Z. Psychoanal. 21 (1935) 561–583, bes. 561ff.; M. Foucault: Naiss. de la clinique. Une archéol. du regard médical (Paris 21972); dtsch.: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks (1973) 121ff. 134ff. 162ff. 206ff.; Surveiller et punir. La naiss. de la prison (Paris 1975) 197ff., bes. 201ff.; dtsch.: Überwachen und Strafen (1976) 251ff.; Th. Kleinspehn: Der flüchtige Blick. S. und Identität in der Kultur der Neuzeit (1989); J. Crary: Techniques of the observer. On vision and modernity in the 19thcent. (Cambridge, Mass./London 21991).
[77]
Vgl. N. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenet. und psychogenet. Unters. (1939, 61979) 406f.; vgl. R. zur Lippe: Naturbeherrschung am Menschen 2 (1974) 19ff.; E. Grawert-May: Zur Gesch. von Polizei und Liebeskunst. Versuch einer anderen Gesch. des Auges (1980); M. Schröter: Wildheit und Zähmung des erot. Blicks. Merkur 41 (1987) 468–481.
[78]
Vgl. H. Buddemeier: Panorama, Diorama, Photographie. Entsteh. und Wirkung neuer Medien im 19. Jh. (1970); S. Oettermann: Das Panorama. Die Gesch. eines Massenmediums (1980); G. Deleuze: Cinema. L'image-mouvement (Paris 1983); dtsch.: Das Bewegungsbild. Kino I (1989); H. Foster (Hg.): Vision and visuality (Seattle 1988); K. Bartels: Vom Erhabenen zur Simulation. Eine Technikgesch. der Seele: Opt. Medien bis 1900 (Guckkasten, Camera Obscura, Panorama, Fotografie) und der menschl. Innenraum, in: Armaturen der Sinne. Lit. und techn. Medien 1870 bis 1920 (1990) 17–42; A. Schmidt-Burkhardt: Sehende Bilder. Die Gesch. des Augenmotivs seit dem 19. Jh. (1992).
[79]
P. Virilio: La machine de vision (Paris 1988); dtsch.: Die Sehmaschine (1989); vgl. S. ohne zu sehen (1991); A. Haus: Impressionismus – Industrialisierung des S. Forma et subtilitas. Festschr. W. Schöne, hg. W. Schlink/M. Sperlich (1986) 254–268, bes. 259f.; vgl. Art. ‹Simulation›.
[80]
Vgl. R. Sennett: The conscience of the eye. The design and soc. life of cities (New York 1990) 8ff. 18. 135. 233f.; dtsch.: Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds (1991) 11ff. 68f 173. 291.
[81]
H. Blumenberg: Höhlenausgänge (1989) 62.
A. Rosenzweig: Das Auge in Bibel und Talmud. Ein Essay (1892). – A. Langen: Anschauungsformen in der dtsch. Dichtung des 18. Jh. Rahmenschau und Rationalismus (1934, ND 1965). – L. Fleck: Schauen, sehen, wissen [1947], in: Erfahrung und Tatsache. Ges. Aufsätze, hg. L. Schäfer/Th. Schnelle (1983) 147–174. – A. Arber: The mind and the eye (Cambridge 1954). – J.-E. Cirlot: El ojo en la mitología. Su simbolismo (Barcelona 1954). – J. Starobinski: L'œil vivant (Paris 1961); dtsch.: Das Leben der Augen (1984). – W. Hofmann: Gespräche mit dem Sichtbaren. Die Wege der mod. Kunstwiss. Merkur 15 (1961) 473–482. 576–586. – W. Deonna: Le symbolisme de l'œil (Paris 1965). – J. Chevalier u.a. (Hg.): Dict. des symboles (Paris 1969) 549ff – N. Pastore: Sel. hist. of theories of visual perception: 1650–1950 (New York 1971). – J. Berger u.a.: Ways of seeing (Middlesex 1972); dtsch.: S. Das Bild der Welt in der Bilderwelt (1974). – W. von Hoorn: As images unwind: Anc. and mod. theories of visual perception (Amsterdam 1972). – O. Koenig: Urmotiv Auge. Neuentdeckte Grundzüge menschl. Verhaltens (1975). – S. Straker: The eye made ‘otherʼ: Durer, Kepler, and the mechanisation of light and vision, in: Sci., technol., and culture in hist. perspective, hg. L. A. Knafla u.a. (Calgary 1976) 7–24. – H. Schipperges: Welt des Auges. Zur Theorie des S. und Kunst des Schauens (1978). – Ch. Wulf: Das gefährdete Auge. Ein Kaleidoskop der Gesch. des S., in: D. Kamper/Ch. Wulf (Hg.): Das Schwinden der Sinne (1984). – Ch. Buci-Glucksmann: La folie du voir. De l'esthét. baroque (Paris 1986). – C.-P. Warncke: Sprechende Bilder – sichtbare Worte. Das Bilderverständnis der frühen Neuzeit (1987). – J.-J. Courtine/C. Haroche: Hist. du visage. Exprimer et taire ses émotions XVIe-début XIXe s. (Paris 1988). – H. Foster (Hg.) s. Anm. [78]. – J.-B. Pontalis: Perdre de vue (Paris 1988); dtsch.: Aus dem Blick verlieren. Im Horizont der Psychoanalyse (1991). – B. Waldenfels: Das Rätsel der Sichtbarkeit. Kunstphänomenolog. Betracht. im Hinblick auf den Status der mod. Malerei. Kunstforum 100 (1989) 331–341. – Th. Kleinspehn s. Anm. [76]. – V. Gerhardt (Hg.): S. und Denken. Philos. Betracht. zur mod. Skulptur (1990). – W. Kemp: Augengeschichten und skop. Regime. Merkur 45 (1991) 1162–1167. – Ph. Alperson (Hg.): The philos. of the visual arts (New York/Oxford 1992). – G. W. Humphreys (Hg.): Understanding vision. An interdisc. perspective (Cambridge, Mass. 1992). – E. S. Ferguson: Engineering and the mind's eye (Cambridge, Mass. 1992); dtsch.: Das innere Auge. Von der Kunst des Ingenieurs (1993). – G. Boehm s. Anm. [1]. – R. Konersmann: Kritik des S. Neue Rdsch. 106 (1994) 137–153.
II. Antike und Mittelalter. – Die antiken Auffassungen vom S. sind Teil einer Kultur des Schauens, deren verschiedene Elemente durch die Universalität des «Sichtbarkeitspostulats» (H. Blumenberg[1]) verbunden sind. Dessen Geltung zeigt sich eindrucksvoll darin, daß zahlreiche Begriffe der Erkenntnis und des Denkens – εἰδέναι, ἱστορεῖν, ἰδεῖν, γιγνώσκειν, θαυμάζειν; ‹videre›, ‹visere›, ‹specere›, ‹tueri›, ‹contemplari› – dem in den alten wie in den neuen Sprachen reich nuancierten Wortbestand der visuellen Erfahrung entstammen [2]. Indirekt wird die semantische Überergiebigkeit des S. zudem darin deutlich, daß gerade der am tiefsten Blickende blind sein darf. Die Strafe der Blendung, von der der Mythos erzählt, ist spätestens seit Ciceros Erinnerung an die Verstümmelung des Demokrit, an die Blindheit Homers und an die Bestrafung des nachmaligen Auguren Teiresias als Geschenk deutbar gewesen, das eine grenzenlose Unendlichkeit erschließt [3] und den Betreffenden gegen die zerstreuende Wirkung der äußeren Dinge abschirmt. Im christlichen Denken wird die ethische Dimension des Motivs radikalisiert. Mehr als bloß Kompensation, gestattet das durch die Blindheit aufgewertete innere Auge dem «Inspirierten» (θεουργός) [4] und «Seher» (θεωρός) [5] die Annäherung an Geheimnisse, die dem sinnlichen S. durch den Andrang der Schaulust, durch die «vitia videndi» und ihre Sensationen verstellt ist. Mit diesem Motivkomplex, der zu den ältesten der Tradition gehört, umfaßt die Geschichte des S. von Beginn an eine Kritik des S.
1. Die ersten aus diesem Umfeld hervorgegangenen Konzeptionen des S. sind einer Theorie der Seele angegliedert. Wie G. Simon in seiner «Archäologie des Blicks» [6] gezeigt hat, unterscheiden sie sich damit nachdrücklich vom ernüchterten Objektbezug der frühneuzeitlichen «Physik des Lichts», die dann – vorbereitet durch die originären Erkenntnisse der islamischen Philosophie – an der Schwelle zur Neuzeit mit J. Kepler aufkam. Für weit länger als ein Jahrtausend, in der Zeitspanne zwischen dem vierten Jahrhundert vor und dem zehnten Jahrhundert nach der Zeitenwende, ist das Paradigma des Sehstrahls für das Verständnis des S. richtungweisend. Dieses epistemologische Grundelement, dessen Geltung M. Ficino[7] und L. B. Alberti[8] noch in einer Zeit dominanter Konkurrenzmodelle hervorheben und bekräftigen werden, prägt das theoretische Gefüge der antiken Optik.
Die griechischen Texte bezeichnen den Sehstrahl als ἀκτίς oder ὄψις, gelegentlich auch als ὁρατικὸν πνεῦμα («Seh-Hauch»). Ohne daß terminologisch immer strikt unterschieden würde, sind damit sowohl eine Emission, bei der Strahlen (ἀκτῖνες: «Feuerpfeile») in gerader Linie aus den Augen austreten, als auch die Ansichten, die der Blick von einem Gegenstand auffängt, gemeint. Die naheliegende und in der Literatur auch häufig unterstellte Assoziation des Lichtstrahls ist problematisch, denn die bei den antiken Theoretikern, Philosophen und Dichtern verbreitete Hypothese faßt Leuchten und S., also die physikalische und mentale Dimension, noch als Zusammenhang [9]. Die Diskrepanz zu späteren Auffassungen ist offenkundig: Der Blick emaniert in der Form eines Kegels oder einer Pyramide, um am Ort des Wahrgenommenen das S. zu realisieren.
In einer von Aristoteles herangezogenen und nach dieser prominenten Zitierung immer wieder aufgenommenen und kommentierten Passage kann Empedokles das Auge mit einer Laterne vergleichen, in deren Licht das urewige Feuer verwahrt sei, um von dort nach außen zu treten und seine Verbindung mit dem Tageslicht erneut zu realisieren [10]. Die Erklärung unterstreicht die Verwandtschaft zwischen Gesehenem und Sichtbarem, zwischen visueller Ausströmung und Licht. Die antiken Theorien des S. bestätigen diesen Zusammenhang durchgehend, und zwar ganz gleichgültig, ob sie die zugrundegelegte Analogizität nach dem Modell des Flüssigen, der Atome oder aber – wie von Alkmaion über Empedokles bis zu Platon und Ptolemaios überliefert – nach dem Vorbild des Feuers verstanden wissen wollen. Die Götter, so faßt Platon diese Positionsreihe zusammen, fertigten von allen Sinneswerkzeugen zuerst die lichtspendenden Augen, indem sie aus jenem Feuer, das nicht brennt, aber mildes Licht spendet, eine dem wiederkehrenden Tageslicht verwandte Substanz machten. «Wenn nun das vom Gesicht ausfließende Licht vom Tageslicht aufgenommen wird, so stößt Gleichartiges auf Gleichartiges und verschmilzt miteinander zu einem einzigen gleichartigen Körper in gerader Richtung vom Auge, wo nur immer das von innen ausströmende Feuer auf etwas stößt, was ihm von außen in den Weg tritt. Da nun dieser Stoff zufolge seiner Gleichartigkeit durchgängig die gleichen Einwirkungen erfährt, so teilt er alle Bewegungen, die er teils durch die eigene Berührung eines anderen teils durch den Anstoß von seiten eines anderen erhält, dem gesamten Körper mit und läßt sie hindurchdringen bis zur Seele: so entsteht jene Wahrnehmung, welche wir ‘S.ʼ nennen» (Ὅταν οὖν μεθημερινὸν ᾖ φῶς περὶ τὸ τῆς ὄψεως ῥεῦμα, τότε ἐκπῖπτον ὅμοιον πρὸς ὅμοιον, συμπαγὲς γενόμενον, ἓν σῶμα οἰκειωθὲν συνέστη κατὰ τὴν τῶν ὀμμάτων εὐθυωρίαν, ὅπῃπερ ἂν ἀντερείδῃ τὸ προσπῖπτον ἔνδοθεν πρὸς ὃ τῶν ἔξω συνέπεσεν. Ὁμοιοπαθὲς δὴ δι' ὁμοιότητα πᾶν γενόμενον, ὅτου τε ἂν αὐτό ποτε ἐφάπτηται καὶ ὃ ἂν ἄλλο ἐκείνου, τούτων τὰς κινήσεις διαδιδὸν εἰς ἅπαν τὸ σῶμα μέχρι τῆς ψυχῆς αἴσθησιν παρέσχετο ταύτην ᾗ δὴ ὁρᾶν φαμεν) [11].
Der in dieser wertenden Beschreibung erwähnte «Stoff» ist das integrale Medium, in dem der visuelle Eindruck entsteht. S. und Licht haben daran gleichermaßen teil. Die Homogenität des zu durchmessenden Raumes wird in dem kühnen, zunächst vor allem von den Pythagoreern verbreiteten und dann bis in die Spätantike nachwirkenden Vergleich des S. mit einem Berühren durch Stäbe und bei Hipparch sogar mit dem Ausgreifen einer Hand anschaulich [12].
Die Sehstrahltheorie bietet eine Erklärung dafür, wie das S. Distanzen überwindet: Das Auge nutzt die umgebende Luft wie ein Werkzeug, indem es ihm seine Aktivität mitteilt. Einer dann bis zu Goethe und darüber hinausreichenden Metapherntradition folgend, nimmt Galen diesen Grundgedanken auf, indem er das Öffnen der Augen als Sonnenaufgang beschreibt. Sobald die Strahlung der Sonne den oberen Rand der Luft berühre, verleihe sie dieser ihre Kraft [13]. Der im zweiten nachchristlichen Jahrhundert angestellte Vergleich bestätigt die relative Konstanz der epistemologischen Grundannahmen. Dazu zählen vorrangig die immer schon vorausgesetzte Proportionalität und funktionale Gleichstellung von «aussendendem» und «empfangendem», von «tätigem» und «leidendem» Teil als einer Wahrnehmung des Gleichen durch das Gleiche sowie die umfassende, also nicht einseitig auf ein Subjekt zurückgenommene Aktivität des S. In der hellenistischen Tradition umfaßt das S. die Möglichkeit, gleichsam «außer sich selbst [zu] empfinden», wird doch der Sehstrahl aufgrundseines synthetischen Charakters «wie ein ephemeres Organ» aufgefaßt, «als eine Art Auswuchs der Seele» [14].
2. Die Theorie des optischen Bildes, wie sie der Atomismus vertritt, weicht ebenso von den späteren Erklärungsangeboten ab wie die antike Sehstrahltheorie, mit der sie im übrigen einige strukturelle Gemeinsamkeiten aufweist. Bei aller Vielgestaltigkeit ihrer Positionen im einzelnen unterstellen die Atomisten einmütig die Homogenität von Anblick und Licht. Sie soll erklären, wie das Bild, nachdem es sich vom Gegenstand gelöst hat, in der mit der ausgesandten Form übereinstimmenden Gestalt als verkleinertes Ganzes den Weg zum Organ der Wahrnehmung findet. Das S. entsteht im Moment der unmittelbaren Berührung von Augenemission und ausgesandtem Bild. Der Abfluß von der Oberfläche der Körper gehe in stetiger Folge vor sich, versichert Epikur, wobei das Bild «die Lage und Ordnung der Atome am festen Körper geraume Zeit hindurch» bewahre, «wenn es auch zuweilen in Verwirrung gerät» [15].
Die Genealogie dieser Erläuterung führt zurück bis auf die Annahme Demokrits, derzufolge das S. durch das Abbild zustande komme, welches die Pupille bei der Hinwendung auf ein Objekt empfängt. Nach einer von Theophrast festgehaltenen Überlieferung [16] läßt Demokrit das Gesichtsbild nicht direkt im Auge entstehen, sondern außerhalb, durch die Zusammendrängung der Luft zwischen dem Auge und dem Gegenstand, von dem die Bilder permanent in alle Richtungen ausströmen. Demokrit objektiviert die Sehtheorie, indem er die Hypothese der Wirkung des Gleichen auf das Gleiche historisch erstmalig auf Unbelebtes ausdehnt und optische Vorgänge konsequent als Raumrelationen expliziert. S. ist für ihn Ausdruck dessen, daß etwas in etwas erscheint [17]. Demokrits weitergehende Deutung des Anblicks als Spiegelung (ἔμφασις) einer zwischen Gegenstand und Pupille zustandekommenden Luftgestalt im feuchten Auge ist freilich von Aristoteles zurückgewiesen worden. Auf der Differenz zwischen S. und Spiegeln beharrend, wirft Aristoteles die rhetorische Frage auf [18], warum unter dieser Voraussetzung nur das Auge sehen könne, andere Dinge hingegen nicht, obwohl doch auf manchen von ihnen ebenfalls Spiegelbilder entstehen.
3. Der Einspruch zeigt, daß und in welchem Maße die Grundannahmen der antiken Optik einander vielfach kreuzen. Zu einer systematisierten und allgemein anerkannten optischen Theorie des S. ist es nie gekommen. Nicht einmal der seither so häufig bestätigte, ursprünglich wohl auf die Kugelgestalt des Auges und die darin nahegelegte Analogie zur ‘sphärischenʼ Gestalt des Kosmos zurückgeführte Gemeinplatz, wonach das Auge der erste und edelste der Sinne sei [19], blieb in der Antike unbestritten. Doch dies sind Auffassungsunterschiede, welche die Intaktheit der epistemologischen Grundlagen nicht ernstlich gefährden. Tatsächlich sind die Konzepte der sei es vom Betrachter, sei es vom Gegenstand ausgehenden «Ausflüsse», «Pfeile» und «Strahlen» nicht schlechterdings unvereinbar, sofern die Aufmerksamkeit sich in beiden Fällen auf das Bild und seine Positionierung richtet, über die das S. zustande kommt.
Eine derart integrative Vorstellung favorisiert auch Platon. Die platonische Sehtheorie, wie sie jene Beschreibung aus dem ‹Timaios› entwickelt und wie sie grundsätzlich im ‹Staat› bestätigt wird [20], ist dreigliedrig. Neben den beiden Emissionsquellen bezieht sie auch das Tageslicht (ἡμερινὸν φῶς) ein. Der von Platon übernommene Similia-similibus-Grundsatz, demzufolge im Sehvorgang Gleichartiges aufeinandertrifft, geht über die Vorstellung einer flüchtigen Berührung der Ströme und Strahlen entschieden hinaus: Die visuelle Wahrnehmung ist das Ergebnis einer immer neu verwirklichten Synthese aus S. und Licht.
Dieser Implikationszusammenhang wird auf metaphorischer Ebene gleichfalls aufgenommen, wenn Platon geistige Vorgänge nach dem Vorbild des S. und näherhin des unbewegten S. erklärt. Wie alle Aufklärung will auch die platonische Ideenlehre ‘zur Einsicht bewegenʼ und ‘die Augen öffnenʼ für das, was ist. Erkennen wird zu einer Weise des Sichtbarmachens, bei dem das Essentielle als Verborgenes gedacht und der Wissenserwerb vor die Aufgabe gestellt ist, durch die Verbergungen hindurch zum Ideenschauplatz vorzudringen. Vor diesem Hintergrunddrängt die Selbstorientierung des Denkens am S. auf Modifikation, denn die Idee des Schönen, auf die sie das Erkennen verweist, ist jeder Zeitlichkeit, Vergänglichkeit und Wandelbarkeit überhoben [21]. Unter den Sinnen, dies bekräftigt Platon so uneingeschränkt wie seine Vorgänger, sind die Augen ausgezeichnet [22]. Ihnen ist es vorbehalten, die Ausstrahlungen der leiblichen Schönheit aufzunehmen. Diese aber steht nicht für sich selbst, denn in der Diesseitswelt legt die Schönheit die Spur der Transzendenz. Der Schauer, der beim S. des Schönen verspürt wird, bewahrt den Betrachter davor, dem sinnfälligen Liebreiz zu verfallen [23].
Vor diesem Hintergrunderklärt sich die gedankliche Zumutung des platonischen Intellektualismus, die darin liegt, daß das Schauen zur Distanzierung vom Geltungsbereich des Sichtbaren bewegen soll. Ist der Zugang zum Schauplatz der Ideen erst einmal beschritten, ist eigentlich nichts mehr zu sehen. Das Schauen ist ein metaphorisches und damit das S. zugleich überbietendes S., ein «Blick des Denkens» (τῆς διανοίας ὄψις) [24]. Die Präparierung des Motivs läßt sich in der Gedankenentwicklung der platonischen Dialoge mitvollziehen. Im ‹Charmides› erwägt Platon zum ersten Mal überhaupt [25] und geistesgeschichtlich wegweisend, ob neben dem gewöhnlichen S., dem S. der Farben, nicht noch eine höhere Art des S. anzusetzen sei, ein S. des S. selbst [26]. Damit ist der Sprung vom S. zum ‘Daß des S.ʼ getan. Im ‹Phaidon› [27] ist dann bereits von schauendem oder intuitivem Erkennen (θεωρεῖν, διανοεῖσθαι), von staunender Schau (θεᾶσθαι) die Rede.
Das Höhlengleichnis motiviert diese Wendung durch den Verdacht, daß der Sehende außerstande sein könnte, über die Realitätsangemessenheit seiner Wahrnehmung zuverlässig zu befinden. Die nachmalige «‘Verallgemeinerungʼ des Höhlendramas zur philosophischen Grundfabel» [28] hat diesem Bedenken in beispielloser Weise Nachdruck verliehen. Demnach müßte selbst derjenige, der aus seiner Befangenheit erlöst und auf das Zustandekommen seines Seheindrucks aufmerksam geworden wäre, an seiner hergebrachten Auffassung festhalten und Blendwerk und Schatten für wirklicher halten als die Wahrnehmungen aus der Welt des natürlichen Lichts. Erst die Gewöhnung würde es mit der Zeit gestatten, die wahre Welt außerhalb der Höhle zu sehen, und das heißt nach der Bewältigung des Aufstiegs auch: sie zu erkennen. Mag die so in Reichweite gerückte Idee auch etymologisch auf das S. (ἰδεῖν) zurückgehen, so ist doch dieses neue, erkennende S. ganz anders als dasjenige der Gefangenen in der Höhle [29]. Es schließt den Zweifel an der Validität des zu sehen Gegebenen ein. Wer die Wahrheit erkennen will – auch dies ist ein frühgriechisches, von den Rhapsoden in der Wertschätzung der Blindheit aufgenommenes Gedankenmotiv –, der sieht mit dem inneren Auge, mit dem «Auge der Seele» (τῆς ψυχῆς ὄμμα) [30]. Die Differenz zwischen den Weisen des S. ist so tiefgehend, daß Platon den Gebrauch der Verba videndi im engeren Umkreis der Ideenlehre – εἶδος oder ἰδέα – zeitweise eingeschränkt zu haben scheint [31], um eine Überschneidung der Sphären auszuschließen.
Das durch die lichtmetaphysische Einbettung angereicherte Aussagepotential des Begriffsfeldes sprengt den Rahmen jener Disziplinengrenzen, wie sie der Vorgeschichte häufig im nachhinein, unter dem Eindruck der von der physikalischen Optik entwickelten Selektionskriterien, eingezogen worden sind. Der im Schauen geltend gemachte Anspruch der θεωρία bewegt zur Besinnung auf die Anamnesis, fördert den Aufschwung der Seele und geleitet zum Wahren und Guten. Auf diese Weise hält er epistemologische und ethische Implikationen beisammen. Die «Typen des Schauens» durchdringen die ganze kulturelle Sphäre [32] und rücken sie zugleich auf Distanz, denn die Normativität der θεωρία schließt die Kritik des S. ein. So verfällt die Malerei dem Verdikt, weil sie das Sinnliche – von dem aus der Weg zum Seienden nachgewiesen und gefunden werden will – auf Sichtbares zurücknimmt [33]. Beide ursprünglich am S. orientiert, beschreiten der «Bildermacher» (εἰδωλοποιός) und der «Theoretiker» (θεωρός) dennoch entgegengesetzte Wege, und es ist unstreitig, welchem Konzept die Sympathien des Philosophen gehören. Die Fruchtbarkeit dieser Kritik besteht jedoch nicht so sehr in der dann durch den Neuplatonismus verschärften Absage an die Aufschlußkraft des sinnlichen S. als in der Sensibilisierung des philosophischen Denkens für die Frage der Angemessenheit seiner Formen und Mittel. Die intellektualistische Skepsis gegenüber dem S. macht den philosophischen Zugang zur Wahrheit als solchen zum Problem.
4. Die von der Ideenlehre umfaßte Spannung zwischen sinnlichem S. und noetischer Schau wird von Aristoteles gemildert. Zwar gesteht auch er dem dezidiert theoretischen, auf die Ermittlung der ersten Gründe und Ursachen bezogenen Wissen eine Vorrangstellung gegenüber dem praktischen Wissen zu, sobald es um die Erkenntnis der Wahrheit geht. Seine von den frühen Editoren so genannte ‹Metaphysik› beginnt jedoch mit der förmlichen Feststellung, alle Menschen strebten natürlicherweise nach Wissen. Dieses Konstituens, fährt Aristoteles fort, tue sich in der Liebe zu den Sinneswahrnehmungen und hier vorzugsweise in der Wertschätzung der Augen kund. Die Begründung zeigt, daß dieser Zuspruch nicht leichthin erfolgt: Nach Aristoteles hat er seine Ursache darin, «daß dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis gibt und viele Unterschiede aufdeckt» (αἴτιον δ' ὅτι μάλιστα ποιεῖ γνωρίζειν ἡμᾶς αὕτη τῶν αἰσθήσεων καὶ πολλὰς δηλοῖ διαφοράς) [34].
Aristoteles schwächt die überweltlichen Bezüge des S. und beschränkt die platonistische Mehrdeutigkeit, indem er dazu übergeht, das S. als eine Sinnesleistung zu untersuchen, die beschreibbaren Regeln folgt. Die überlieferten Texte bieten zwei Erklärungen des Sehvorgangs an, ohne definitiv zwischen beiden zu entscheiden. In offener Konkurrenz zu dem von ihm selbst erwogenen Sehstrahlkonzept [35] lenkt Aristoteles in seiner Seelenkunde die Aufmerksamkeit auf das transparente Medium, das Auge und Gegenstand verbindet. Da demnach das S. nur zustande kommt, wenn «das Sinneswerkzeug etwas erleidet», dieser Impuls aber nicht von der gesehenen Farbe ausgehen kann, «bleibt nur übrig eine Erregung durch den Zwischenstoff. Wäre also der Zwischenraum leer, so würden wir nicht etwa genau sehen, sondern überhaupt nicht» [36]. Transparenz ist demnach die Natureigenschaft einiger Elemente, der Luft oder des Wassers, die sie aktivieren, wenn sie die Farbe eines Dritten sehen lassen. Hinzu tritt das Licht, ohne das Ansichtigkeit nicht zu realisieren wäre. Nach Aristoteles ist es keine Substanz, sondern «die Betätigung des Durchsichtigen als solchem» (φῶς δέ ἐστιν ἡ τούτου ἐνέργεια τοῦ διαφανοῦς ᾗ διαφανές) [37]. Was das Auge infolgedessen aufnimmt, ist der über das Medium vermittelte Farbreiz. Dieser ist Sichtbares und damit Teil der Selbstaffizierung des S. Wenn Aristoteles die Farbe nicht bloß zum Gegenstand des S. erklärt, sondern das S. seinerseits als etwas Gefärbtes beschreibt [38], dann ist damit offenbar eine Einheit angesprochen, die das S. mit dem S. des S. augenblicklich realisiert [39].
5. Die sinnesphysiologische Leistung des Auges findet bei Aristoteles geringere Beachtung. Er begnügt sich mit den Auskünften des alten Similia-similibus-Prinzips: Als wäßriges Organ teilt das Auge mit dem Medium die Eigenschaft der Transparenz. Das Gesehene ist eine im S. zustande gebrachte Konkretion von Sichtbarem. Die Hervorhebung des Medialen, die dann in den pneumatologischen Sehtheorien der Stoiker aufgenommen wird [40], führt die aristotelischen Erläuterungen auf Umwegen zu einigen Grundannahmen der platonischen Optik zurück.
Ungleich deutlicher als im aristotelischen Denken ist die Spur platonistischer Vorstellungen bei Plotin ausgeprägt. Während die aristotelische Sehkonzeption eine Versachlichungstendenz erkennen ließ, die gelegentlich auf die epistemologischen Grundlagen der dann an der Schwelle zur Neuzeit definierten physikalischen Optik vorauszuweisen scheint, versetzt der christliche Neuplatonismus die Topoi der antiken Sehtheorien geradewegs in die Metaphysik. Der Zweifel an der Aufschlußkraft des Augensinns wird nun auf die Proportionalität des menschlichen Weltverhältnisses insgesamt ausgedehnt. Die Tragweite dieses Bedenkens erleichtert die Umdeutung des S. Die Geisterzeugung des Einen geschieht dadurch, erläutert Plotin, «daß es in der Rückwendung auf sich selbst sich selbst sieht. Dieses S. aber ist der Geist» (ὅτι τῇ ἐπιστροφῇ πρὸς αὑτὸ ἑώρα· ἡ δὲ ὅρασις αὕτη νοῦς) [41]. Die Formulierung zeigt nebenbei, wie stark die hellenistische Bevorzugung des Augensinns unter christlichen Vorzeichen nachgewirkt hat. Im Bemühen, zwischen der Visualität des griechischen Denkens und der Akroamatik der alttestamentlichen Botschaft auszugleichen, hat der christliche Neuplatonismus «den Bildungsgang des Geistes als Verwandlung der niederen Form des Hörens in die höhere des S. figuralisiert» [42]. Die damit etablierte Vorzugsstellung der Visualität wird noch für Cusanus vorbildlich sein.
Zunächst freilich verschärft die Grundfigur der Selbstbezüglichkeit die semantischen Dissoziationen des Höhlengleichnisses. Hatte Platon sinnliches und geistiges S. kontrastiert, um von diesem ein erhellendes Licht auf jenes fallen lassen und die beanstandeten Irreführungen des Sensoriums korrigieren zu können, so verdächtigt Plotin die sichtbare Körperwelt pauschal als trügerische Welt des Scheins. Die Abwertung ist so kraß, daß die neuplatonische Hierarchie der Seinsstufen die platonische Szenerie des Aufbruchs vollkommen verdrängt. Wenn die neuplatonische θεωρία den Aufstieg der von der übersinnlichen Schönheit erregten Seele anleitet, dann führt sie sie heim. Konsequent überträgt Plotin Sinnliches auf Geistiges, Äußeres auf Inneres. Die Seele nimmt das höchste Schöne ohne Gebrauch der Sinne auf, denn ‹S.› bezeichnet nun ein Vermögen gleich dem, «mit dem die Seele derartige Dinge schaut» (ᾧ ψυχὴ τὰ τοιαῦτα βλέπει) [43]. Die Schau hat sich sonach von allem Sinnlichen fernzuhalten, denn – und hier erfolgt unvermittelt ein Platztausch zwischen Metapher und Begriff –, was das leibliche Auge sieht, ist allenfalls ein Gleichnis. Die aus diesem Grundgedanken abgeleitete Erziehung zu Abkehr und Wiederaufstieg beruht auf der ontologischen Voraussetzung, daß die Einzelseele von der Allseele nur graduell verschieden und deshalb zur Bewältigung der Seinsstufen hinreichend ausgestattet sei. «Jene höhere Sehkraft aber sieht nicht vermöge eines andern Dinges, sondern nur vermöge ihrer selbst, zumal sie sich ja nicht nach außen richtet; sie ist also das eine Licht, welches das andere Licht sieht, nicht geschieht dies Sehen vermöge eines anderen. Es sieht also ein Licht; mithin sieht es selbst sich selber» (ἡ ὄψις φῶς οὖσα ... ὁρᾷ· ... οὐ δι' ἑτέρου, ἀλλὰ δι' αὑτῆς, ὅτι μηδὲ ἔξω. Ἄλλῳ οὖν φωτὶ ἄλλο φῶς ὁρᾷ· αὐτὸ ἄρα αὑτὸ ὁρᾷ·) [44]. Die Hebung der Seele durch die Schau ist getragen von einer unvorgreiflichen kosmischen Harmonie.
Das schon für Plotin konventionelle Wort von der «Sonnenhaftigkeit des Auges» (οὐ γὰρ ἂν πώποτε εἶδεν ὀφθαλμὸς ἥλιον ἡλιοειδὴς μὴ γεγενημένος) [45] ist durch M. Ficinos lateinische Übersetzung weitergereicht und von J. W. Goethe in vielzitierte Verse gesetzt worden («War nicht das Auge sonnenhaft, / Wie könnten wir das Licht erblicken? / Lebt nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt uns Göttliches entzücken?» [46]). Den Versen läßt sich entnehmen, daß die Gedankenfigur auch unabhängig von ihren angestammten Filiationen in solchen Kontexten zu bestehen vermochte, in denen es gerade darum ging, den seinerzeit verschärften Dualismus zwischen S. und Schau zurückzunehmen. Motivtranspositionen wie diese, in denen das Auge schließlich als «das letzte, höchste Resultat des Lichtes auf den organischen Körper» emphatisiert ist [47], werden jedoch erst nach einem umfassenden Austausch der Gedankenhintergründe und insbesondere nach der sensualistischen Revokation der platonistischen Entkräftung des S. vollziehbar.
Bis dahin wirkt die antike θεωρία im christlichen Konzept der «visio» weiter. Zwar hat Augustinus keine spezielle Abhandlung über das S. verfaßt, doch seine Autorität ist auch bei diesem Thema für viele Autoren unstreitig. Entsprechend lebhaft sind seine Überlegungen aufgenommen worden – so von Adelard von Bath, von Robert Grosseteste und selbst noch von John Pecham[48], dessen ‹Perspectiva communis› wiederum Leonardo da Vinci exzerpieren wird. Mit der Erklärung, daß der Sehvorgang ein Strahlenentwurf der Augen sei, der sich auf das Nächstliegende ebenso richten könne wie auf Entferntes [49], übernimmt auch Augustinus das Sehstrahlkonzept. Die Gesamtveranstaltung der Augustinischen «visio» ist Ausdruck der «prudentia» [50] und wird – in wahrnehmungs- und erkenntnistheoretischer Hinsicht – als etwas Aktives begriffen.
Sie ist überdies – ethisch-theologisch betrachtet – ein Aufruf zur Läuterung. Augustinus verweist die Seele auf ihren «inneren Sinn» («sensus interior»), der den äußeren Sinnen schon dadurch überlegen sei, daß er ihre Wahrnehmungen zu koordinieren vermag. Von hier aus schreite die Seele weiter, um die Außenwelt und alles Begehren, einschließlich der «curiositas» und der «concupiscentia oculorum» [51], zu überwinden. Das mit der größten Reserve bedachte sinnliche S. – diesen Gedanken wird Johannes Scotus Eriugena aufnehmen – dient allein dem Zweck, Gott, der selbst nicht sichtbar ist, in der Schönheit seiner Werke zu erblicken: «deum in his visibilibus creaturis cognoscere» [52]. Der Schriftsteller Augustinus unterstützt seine didaktische Absicht durch die Rhetorik des «stereoskopischen Effekts» [53], indem er das Explikationsangebot der Visualität als Redefigur einsetzt, um theoretisch über es hinauszugelangen. Sein Bemühen gilt der Erregung des «Seelenauges», das förmlich auszubilden ist, «damit es nicht vergeblich und blindlings umherblickt und verkehrt sieht» («ne frustra et temere aspiciat, et prave videat») [54]. Wenn Augustinus die Wahrnehmung von der Memoria und vom inneren Sinn der Seele her konzipiert, dann begreift er – mit einer für die nachfolgenden Jahrhunderte wegweisenden semantischen Verschiebung – die «visio corporalis» als Organ der «visio spiritualis». «Die Vernunft ist das Sehvermögen der Seele, mit dem diese von sich aus, unabhängig vom Körper, die Wahrheit schaut» («Ratio est aspectus animi, quo per seipsum, non per corpus verum intuetur») [55].
6. Die spezifische Differenz des Sehstrahlkonzepts namentlich gegenüber den nachfolgenden Theorieangeboten ergibt sich daraus, daß es das S. ganz unmittelbar ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Das kontextbezogene Erfassen der sensorischen Vorgänge kennt den später selbstverständlich gewordenen Umweg über die Physiologie des Auges oder über die physikalische Erfassung des Lichts noch nicht. Vielmehr stellt es das S. mit dem Gesehenen in den Rahmen einer proportionalen Gesamtordnung. So gelten die Farben nicht, wie seit I. Newton geläufig, als Modifikationen eines Lichtreflexes, sondern als Eigenschaften des Sichtbaren, als «sensibilia propria» des S. [56].
Mit dem Gesehenen ist nach antiker Auffassung auch das Licht gegeben, mit diesem wiederum das Gesichtsfeld und die Empfindung des S.; Euklid setzt das damit umrissene epistemologische Grundgerüst gleichfalls voraus, wenn er die Optik mathematisiert. Seine optischen Lehrsätze erschließen die Phänomene des Sichtbaren mittels geometrischer Figuren. Von der Physiologie des Organs ist dabei ebensowenig die Rede wie vom Licht oder von der Farbe. Euklid, dessen Optik durch zahlreiche Kompilationen und Neuauflagen auf Galen, auf Al-Kindī und Ibn Al-Haitham (Alhazen) und dann bis ins 16. Jh. hinein beträchtlichen Einfluß ausüben wird [57], hebt die Gradlinigkeit der vom Auge ausgesandten, unbegrenzt auseinanderstrebenden Sehstrahlen hervor. Euklid beschreibt das Blickfeld als Kegelumriß, dessen Scheitelpunkt im Auge und dessen Grundfläche auf dem Objekt ruht. Wo die Sehstrahlen nicht hinreichen, wird auch nichts wahrgenommen, während das, was sie treffen, exakt so, wie sie es berühren, an seinem Ort gesehen wird.
Gut vier Jahrhunderte später wird der alexandrinische Astronom Klaudios Ptolemaios die rein metrische Betrachtungsweise erweitern und den Gedanken der gegenständlichen Konstanz einfuhren. Hatte Euklid die Gegenstandsrelationen noch ganz auf meßbare Größen, auf ihre Erscheinungsweise in einem dem Kalkül nachkonstruierten Blickfeld zurückgenommen (mit der Konsequenz, daß die euklidische Optik ein schräg gesehenes Rad nicht als Kreis, sondern als Oval darstellt [58]), so beläßt Ptolemaios den Elementen des Blickfeldes ihre relative Identität. Die Sehstrahlen, deren Grundstellung im übrigen auch Ptolemaios nicht antastet, werden reflexiv gefaßt, so daß nun das Empfinden für ihre Erstreckung thematisch wird. Anders als Euklid beschreibt die jüngst wiederhergestellte Konjekturalfassung der ptolemaeischen ‹Optica› den Sehstrahlenkegel als homogenes Gebilde. Die Umstellung erlaubt es, das Sichtbare in Abhängigkeit von der Stärke der beim S. aufgewandten Energie und der Intensität der Beleuchtung zu erfassen. Die optische Sensation wird dadurch hinsichtlich ihrer Deutlichkeit differenzierbar. Nach Ptolemaios läßt die Sehschärfe mit der Entfernung von der Mittelpunktachse des Sehkegels nach. Die Berücksichtigung der Sehstrahlenlänge gestattet es darüber hinaus, über die ermittelte Entfernung vom Blickpunkt und die Bestimmung des Sehwinkels die Größe der auf dem Sehfeld verteilten Gegenstände zu berechnen.
Dies und die von Ptolemaios geleistete Exposition jener Regeln, die dem binokularen S. die Integration der beiden Sehkegel gestatten, stärken das Vertrauen in die Aufschlußkraft der optischen Sensation, die – wenn man die möglichen Irrtümer des S. nur hinreichend bedenkt und berücksichtigt [59] – ein untrügliches Wissen über die sichtbar sich zeigende Welt zu eröffnen verspricht. Das S. kann als ‘natürlichʼ erscheinen, denn der Sehende hat «an den von ihm mit dem Blick betasteten Dingen teil, in einer Welt, die wirklich allem und allen gemein ist und die aus einer gegenseitigen Verflechtung von Tun und Leiden besteht» [60]. Die in den nachfolgenden Sehkonzeptionen aufgeworfenen Fragen nach der Art und Weise, wie die Farbe die Sensation verändert, nach der Wirkung des Lichts, nach der Verbindung von Lichtquelle, Objekt und sensorischem Organ, nach der Dimensionalität des Gesichtsfeldes oder nach dem physikalischen Zusammenhang von S., Sichtbarkeit und Sehwelt haben in den der okularen Kultur der Antike entstammenden Optiken kein auch nur annähernd vergleichbares epistemologisches Gewicht.
Zu Beginn des 9. Jh. tritt Al-Kindī mit dem Anspruch auf, das antike Wissen in der islamischen Welt bekannt zu machen. Im Zuge dieser Erneuerung rückt die Optik in den Rang einer Leitwissenschaft auf, da sie mit eben jenen Strahlen befaßt ist, die nach Ansicht des Mutaziliten von allen Elementen der Welt ausgesandt werden[61]. Die Wissenschaft vom Sichtbaren ermittelt die grundlegenden Gesetze des Weltzusammenhangs. Im Sinne des selbstgesetzten Anspruchs greift Al-Kindī die überlieferten Konzeptionen auf und folgt dabei insbesondere den Geometrisierungen, wie sie die euklidische Optik vorgenommen hatte. Darüber hinaus erfährt die Sehstrahltheorie eine physiologische Bestätigung [62]. Al-Kindī will den Sehstrahl als eine durch das Auge hervorgerufene Umwandlung der umgebenden Luft verstanden wissen. Dementsprechend wird das S. nicht weiter als ein wechselseitiges Aufnehmen von Gleichartigem begriffen, sondern als eine Modifikation von Gegensätzlichem. Ḥunain ibn IsḤāq, der zeitgenössische Anhänger der galenischen Schule, stärkt diese Tendenz, wenn er in seiner augenheilkundlichen ‹Lehre vom S.› erklärt, der Sehhauch verändere mit dem Austritt aus dem Auge die Luft [63]. Die Luft übernimmt demnach die Aufgaben eines Mediums zwischen Auge und Objekt, sie ist Organ des S.
Das Nebeneinander euklidischer und galenischer Theorieangebote sicherte einstweilen den Fortbestand der Sehstrahl- und Sendetheorien, deren Geltung zunächst – das gilt selbst für die gleichzeitig vorgetragene Kritik Alhazens – weniger annulliert als beschränkt wird. Der islamische Eklektizismus förderte die Binnendifferenzierung der überlieferten Konzepte, an deren Ende freilich die Preisgabe des Paradigmas stand [64]. Besonders weitreichend war in diesem Zusammenhang der Einfluß von Ibn Sīnā (Avicenna), der an der Jahrtausendwende die Sehstrahltheorie von einer aristotelisch begründeten Position aus dezidiert zurückwies, ohne freilich eine ausgearbeitete Alternative vorzulegen. Die bedeutungsgeschichtliche Wirkung dieses Peripatetikers ist in erster Linie traditionskritisch. Er widerlegt Euklids Geometrie der Sehstrahlen ebenso wie die galenische Auffassung einer von den Aussendungen bewirkten Umwandlung des Mediums. Statt dessen gibt er der Überzeugung Ausdruck, daß der Sehvorgang der Übermittlung von Farben durch Licht ähnele. Das S. entsteht demnach nicht, «weil etwa in irgendeiner Art ein Strahl von ihm ausginge und auf den sichtbaren Gegenstand träfe, sondern weil die Form des gesehenen Dinges zum Gesichtssinn kommt, und zwar übermittelt durch ein durchsichtiges Medium» [65]. Die Kritik erleichterte die Rehabilitation der aristotelischen Sehtheorie, die dann Ibn Rušd (Averroes) im 12. Jh. zur Grundlage seiner Optik macht. Einerseits nimmt Averroes die Optiken seiner Vorgänger einschließlich ihrer medizinischen, naturphilosophischen und mathematischen Fragestellungen auf und führt sie zu einer geschlossenen Konzeption zusammen, andererseits drängt gerade diese Integrationsleistung die Sendetheorien immer weiter zurück, bis sie schließlich – zumindest im Bereich der wissenschaftlichen Optik – durch die bereits auf die frühneuzeitlichen Sehkonzeptionen vorausweisende Empfangstheorie des S. abgelöst werden. Entscheidend beteiligt an diesem Umbruch ist Alhazen, dessen Schriften über die Renaissance hinaus bis ins 17. Jh. hinein lebhafte Beachtung fanden. Alhazen weist das Sehstrahlparadigma endgültig ab, um es – unter Berufung auf den Atomismus und die aristotelische Seelenlehre [66] – vollends durch ein empfangstheoretisches Modell zu ersetzen. Anders als die Vorgänger beschreibt der islamische Naturphilosoph den Sehvorgang nicht als Übermittlung bildlicher Einheiten, sondern als Punktstrahlung, die – wahrnehmbar als Farbe und Licht – von den Gegenständen ausgeht. S., erläutert Alhazen, kann nicht eintreten, «ohne daß irgend etwas vom sichtbaren Gegenstand zum Auge kommt» [67]. Für die Empfangslehre spreche neben dem geometrischen Aufbau des Sehorgans die sowohl auf organische als auch auf anorganische Prozesse anwendbare Analytik des Sehvorgangs selbst. Dementsprechend könne man sagen, «daß die Formen, die zum Auge kommen, nicht zum Gemeinsinn weitergehen, sondern daß sich eine Empfindung [sensus] zum Gemeinsinn ausbreitet, geradeso, wie sich auch Schmerz und Tastempfindungen ausbreiten, und daß das ‘ultimum sentiensʼ dann den wahrnehmbaren Gegenstand wahrnimmt» [68]. Der angebahnten analytischen Trennung folgend, unterscheidet bereits Alhazen zwischen «aspectus», der bloß oberflächlichen Sensation, und «intuitio», der bewußten Gesichtswahrnehmung [69].
Mit der kritischen Prüfung und Integration der überlieferten Sehtheorien gewann die «neue islamische Schöpfung» [70] der empfangstheoretisch begründeten Optik nicht nur Einfluß in der arabischen Welt, sie wirkte vor allem auch auf europäische Leser anregend. Alhazen nahm Keplers Theorie des Netzhautbildes nicht vorweg, doch er stellte viele «der grundlegenden begrifflichen Materialien» bereit, «aus denen die neue keplersche Theorie gebaut werden konnte» [71].
7. Die semantische Auffächerung des Begriffs wurde durch diese Intervention nicht beeinträchtigt. Tatsächlich hielt die für die christliche Welt selbstverständliche Präsenz des «lumen fidei» den Bedeutungshintergrunddes Illuminativen stets gegenwärtig. Die mittelalterliche Welt des Sichtbaren erstrahlt in göttlichem Licht, um von dessen unsichtbarem Dasein zu zeugen. Was das «Augenlicht» («lumen oculorum») betrachtend und lesend aufnimmt, dient der Läuterung und der Erlangung des Heils. Dabei ist sowohl in der monastischen als auch in der Laienkultur die Unterscheidung zwischen den visuellen Aktivitäten, zwischen Lesen («lesen») und S. («schouwen»), offenbar weniger trennscharf als zu anderen Zeiten [72]. Derartige Übergänge dokumentieren das Nebeneinander der weitgehend aristotelisch inspirierten Entwicklungen der physikalisch-physiologischen Optik, wie sie vorrangig die islamische Philosophie vorangetrieben hatte, und den metaphernfreudigen Auffassungen des S., wie sie aus dem Platonismus hervorgegangen waren. Deren Domäne freilich war weniger die Physik als eine Metaphysik, die nunmehr den Befunden der Optik aufgeschlossen gegenübertrat.
An der Epochenschwelle nimmt Nikolaus von Kues – auch sein Werk eine Inspirationsquelle Keplers [73] – die überlieferten Problemzuspitzungen auf, um ihnen eine differenziertere Gestalt zu geben. Sinnfällig wird diese Umstellung in der Schrift ‹De visione Dei sive De icona› (1453), deren Titelformulierung die zentrale Problematik bereits anklingen läßt: Das Neben- und Ineinander von Genitivus subjectivus und Genitivus objectivus, die ‘Koinzidenzʼ von «videre» und «videri». Entsprechend dieser Komplexion umfaßt der Cusanische Begriff des S. mehrere Bedeutungsschichten. Er bezeichnet zunächst die Art der Zuwendung des Absoluten zu seiner Schöpfung, sodann die Art der Rückwendung derer, denen es sich solchermaßen zuwendet, schließlich auch – und untrennbar damit verbunden – die Art, wie diese Zuwendung und Rückwendung sprachlich zum Ausdruck gebracht werden kann. Das Cusanische S. antwortet auf ein Darstellungsproblem, das es zugleich artikuliert. Das Sichtbare erscheint in einem uneigentlichen Modus, dessen Abstand zum authentischen Vollzug stets präsent bleibt. Der über die Exoterik des S. gewonnene Begriff hält diese Verfehlung aber nicht nur bewußt, er ist auch ein Angebot zur Kompensation. S. ist ein Auskunftsmittel des nach den Einsichten der wissenden Unwissenheit übriggebliebenen Weges zum liebenden («affectio») und erkennenden («intellectio») Wissen. Um zur Wahrheit zu gelangen, predigt Cusanus, «ist es notwendig, daß dies durch eine unbegreifliche Einsicht gleichsam auf dem Wege einer Entrückung im Augenblick geschieht; so wie wir mit dem fleischlichen Auge [carneo oculo] den Glanz der Sonne nur für einen Augenblick auf unbegreifliche Weise betrachten können» [74]. Der Umweg, der mit dem S. gewiesen wird, stellt eine neuerliche und die Mitteilungskraft des gesprochenen Wortes und der Schrift übertreffende Ausdrucksstärke der Glaubensbotschaft in Aussicht [75].
Neuplatonisch gedacht ist der Einbezug des S. in ein übergreifendes Selbstsehen des Einen, wie ihn in einem vergleichbaren Gedankengang bereits Meister Eckhart dargestellt hatte («Daz ouge, dâ inne ich got sihe, daz ist daz selbe ouge, dâ inne mich got sihet; mîn ouge und gotes ouge daz ist éin ouge und éin geziht und éin bekennen und éin minnen.» [76]): Gott sehen heißt, von ihm gesehen zu werden, denn Gott (θεός) ist, einer ursprünglich stoischen und von der Mystica theologia nun aufgenommenen Etymologie zufolge, ein sehender Gott (θεωρῶν, «deus videns») [77]. Die «visio absoluta» ist Anfang des endlichen und beschränkten S. («visio contractus»), sie ist «principium ex quo omnia» und «causa omnium visibilium»: «Das von aller Verschränkung losgelöste S. ... umfaßt zugleich und auf einmal alle und jede einzelne Weise des S.; gleichsam als das angemessene Maß und das wahrste Urbild alles S. ... Es umfaßt in sich alle Maßweisen des S. [omnis videndi modos], und zwar so, daß es alle wie jede einzelne in sich begreift» [78]. Zur Illustration dieser Geborgenheitsgewißheit verweist Cusanus zum einen auf den Reichtum der Verba videndi im Bereich des Wissens, Verstehens und Begreifens, zum anderen entfaltet er – im Einklang mit der zeitgenössischen «ars perspectiva» [79] – die Grundzüge des philosophischen Perspektivismus. Der der «visio contractus» angewiesene Gesichtspunkt gibt den «Blickwinkel» («angelus oculi») vor, von dem aus das Wissen der Wahrheit sich aus endlich beschränkter Sicht mehren läßt.
Um das Gemeinte zu veranschaulichen, verweist Cusanus auf das Beispiel des in der zeitgenössischen Malerei geschätzten Motivs des «Blicks aus dem Bild» [80]. So wie dort der Blick einer Bildfigur den Eindruck vermittle, den Bewegungen des Bildbetrachters folgen zu können, so dürfe sich der Erkennende vom Allsehenden auf seinen Wegen angeblickt wissen. Das sinnliche Gleichnis der «praefatio» führt mathematische (geometrische), ästhetische und metaphysische Aspekte zusammen, um der überlieferten Differenz der Sehweisen, also dem Intellektualismus der Anschauung und dem Sensualismus der Wahrnehmung [81], eine versöhnliche Gestalt zu geben. Von den frühen Lesern des Cusaners, so von M. Ficino und G. Bruno, ist vor allem dieses Deutungsangebot aufgenommen und weitergetragen worden [82]. Die aufmerksame Betrachtung des sinnlich Gegebenen erleichtert, wie Cusanus mit Paulus sagt, das Bemerken seines «Rätsels» [83]. Der vordem von neuplatonistischer Seite zugespitzte Gegensatz von «innerem» und «äußerem» S. weicht damit der ungleich subtileren Komplementarität von Erfahrungsverwiesenheit und Gottesschau, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit.
Mit dem Vollzug dieser Wendung konnte Cusanus zum Anreger der Renaissancemaler werden. Der Akt des S., wie ihn der von ihm geschilderte Bildbetrachter beispielhaft vollzieht, ist zugleich Gesehenwerden, ist Erblicken und Erkenntnis seiner selbst [84] als des anderen des Nicht-Anderen im lebendigen Spiegel der Ewigkeit («speculum aeternitatis vivum») [85]. Der spiegelmetaphorisch unterlegte Begriff des S. [86] assoziiert ein Wahrheitsverständnis, dessen Bildmodell jener Ignoranz Tribut zollt, die der Belehrte als unvordenkliche Voraussetzung seines Wissens vom Absoluten und des absoluten Wissens zugestehen muß. Das durch seine Aussagefähigkeit aufgewertete sinnliche S. weist über sich hinaus auf ein S. mit geistigen und vernünftigen Augen («mentalibus et intellectualibus oculis»), das in der Lage ist, das nunmehr erneut anerkannte und zugleich in den Horizont des Unsichtbaren als des unveräußerlichen Hintergrundes seiner Produktivität [87] gestellte Sichtbare als Zeichen für die unsichtbare Wahrheit des göttlichen Antlitzes zu verstehen[88].
Wie vielgestaltig die Semantik des S. sich durch solche Brückenschläge zwischen «Sichtigem» und «Unsichtigem» (Paracelsus) [89] ausprägen ließ, zeigt die weitere Geschichte des Umbruchs an der Epochenschwelle der frühen Neuzeit. Leonardo da Vinci stellt die theoretischen, aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht freilich mehr durch ihre Ambitionen als durch die Ausarbeitung überzeugenden [90] Grundlagen einer Malerei als göttlicher Wissenschaft der Oberflächen und des Sichtbaren bereit. Das künstlerische S. übertrifft demnach die Natur, deren Dinge vergänglich seien, da doch die Werke, «die das Auge den Händen befiehlt, unendlich sind» [91]. Wie Cusanus hält auch Leonardo den Rangstreit der Sinne und der Künste jederzeit gegenwärtig. Es ist ihm jedoch darum zu tun, die Konkurrenzsituation direkt durch die Intervention des verfeinerten Seheindrucks, durch das «sapere vedere» zu überwinden [92]. In Übereinstimmung mit einer zeitgenössischen, von N. Poussin dann wegweisend als «Anblick» («aspect») und als «Hinblick» («prospect») bestätigten Unterscheidung [93] zwischen natürlichem («voir simplement») und gezieltem S. («considérer avec attention») betont Leonardo die Überlegenheit der Sichtbarmachung gegenüber den Ausdrucksmitteln der Sprache und rechtfertigt sie mit dem Erfahrungserweis des «speculare». Das S. selbst ist nun sowohl ein physiologischer Akt, also körper- und naturverbunden, als auch ein Akt des Verstehens, also geist- und vernunftvermittelt. Die daraus erwachsene und durch konkurrierende Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen gar nicht zu überbietende Überzeugungsstärke der Sehkraft, deren Eindrücklichkeit «den Streitenden den Mund schließt», hebt sie sogar in den Rang einer Irenik [94].
Leonardo bestimmt das S. in einer Epoche des Übergangs. Er rechtfertigt die Schaulust und die später von F. Nietzsche so genannte apollinische «Wonne des Schauens» [95] als Kompensationsangebot an ein Wesen, das sich, wie der Leonardo geläufige Neuplatonismus sagt, mit dem «Kerker» seines Daseins abzufinden hat. Das universalisierte S. eröffnet ihm die Möglichkeit, sich – unmittelbar – der selbstgeschaffenen Schönheiten und – mittelbar – der menschlichen Ursprünglichkeit zu vergewissern. Es entspricht dieser Emphatisierung, wenn Leonardos lapidare Reflexionen ihre Fortführung und Anwendung in der Praxis seiner Malerei als der weder durch Wortkunst noch durch die Ausgestaltung des Begriffsgebäudes substituierbaren «Wissenschaft des Sichtbaren» finden. Im Unterschied zu jener für die weitere Bedeutungsgeschichte bestimmenden Substitution von Visualität durch Intelligibilität, die von den Platonikern vorbereitet worden war und später mit der von Descartes bereitgestellten Paradigmatik vollendet werden wird [96], faßt Leonardos Konzept die «wissenschaftliche» (abstrakte) und die «ästhetische» (visuelle) Einstellung noch als Einheit.
Ralf Konersmann
[1]
Blumenberg, a.O. [48 zu I.] 731ff.
[2]
Vgl. B. Snell: Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philos. (1924) 21f. pass.; R. Pfister: Zum Aspekt der Verba des S. bei Plautus (1936); H. J. Mette: ‘Schauenʼ und ‘Staunenʼ. Glotta 39 (1961) 49–71; W. Luther: Wahrheit, Licht, S. und Erkennen im Sonnengleichnis von Platons Pol. Ein Ausschnitt aus der Lichtmet. der Griechen. Stud. Gen. 18 (1965) 479–496; Snell, a.O. [27 zu I.] 21ff.; D. Bremer: Hinweise zum griech. Ursprung und zur europ. Gesch. der Lichtmet. Arch. Begriffsgesch. 17 (1973) 7–35, bes. 24ff.; H. Schmitz: Die Wahrnehmung (1978) 188ff.; S. Matuschek: Über das Staunen. Eine ideengeschichtl. Analyse (1991) 8ff.; E. Grassi: La metafora inaudita, hg. M. Marassi (Palermo 1990); dtsch.: Die unerhörte Metapher, hg. E. Hidalgo-Serna (1992) 21ff. 78ff.
[3]
Vgl. Cicero: Tusc. disp. V, 39, 114f.; zur weiteren Rezeption vgl. E. Wind: Pagan mysteries in the Renaissance (London 21958) 52ff., bes. 56ff.; dtsch. (1981) 68ff.
[4]
Vgl. P. Crome: Symbol und Unzulänglichkeit der Sprache. Jamblichos, Plotin, Porphyrios, Proklos (1970) 35ff.
[5]
Vgl. E. Grassi: Die Unfehlbarkeit: Ein philos. Problem. Sprache und Schau, in: Kerygma und Mythos VI/6 (1975) 51–69.
[6]
Vgl. G. Simon: Le regard, l'être et l'apparence dans l'optique de l'antiquité (Paris 1988) 16. 83ff. 191f. 196f. u.ö.; dtsch. (1992) 23. 93ff. 208f. u.ö.; anders: D. C. Lindberg: Theories of vision from Al-Kindi to Kepler (Chicago 1976) Xf.; dtsch. (1987) 11f.
[7]
Vgl. M. Ficino: Comp. Plat. theol. [1474]. Op. omn. (Basel 1576, ND Turin 1962) 1, 694; vgl. Trakt. zur Plat. Philos., hg. E. Blum u.a. (1993) 130f.
[8]
Vgl. L. B. Alberti: Della pictura lib. tre [1435]. Kl. kunsttheoret. Schr., hg. H. Janitschek (1877, ND 1970) 57ff.
[9]
Vgl. Art. ‹Raum, Raumwahrnehmung, psychologischer Raum›. Hist. Wb. Philos. 8 (1992) 111–121.
[10]
Empedokles: Frg. 31, B 84. VS 1, 341; vgl. Aristoteles: De sensu 437 b 24ff.
[11]
Platon: Tim. 45 c f.
[12]
Vgl. H. Diels (Hg.): Doxogr. graeci (1874) 404 (Aetius: Plac. IV, 13, 9); W. Jablonski: Die Theorie des S. im griech. Altertume bis auf Aristoteles. Sudhoffs Arch. Gesch. Med. Nat.wiss. 23 (1930) 306–334, bes. 308f.; vgl. ‹Haptisch/optisch›. Hist. Wb. Philos. 3 (1974) 999.
[13]
Galen: De plac. Hippocr. et Plat. VII, 5, 1. 5–7. Op. omn., hg. C. G. Kühn (1821–33, ND 1964f.) 5, 457; vgl. Simon, a.O. [6] 34f./45; zur Sonnenhaftigkeit des Auges vgl. W. Beierwaltes: Lux intelligibilis. Unters. zur Lichtmet. der Griechen (1957) 37ff.
[14]
Simon, a.O. [6] 35f. 200/46. 232.
[15]
Epikur: Br. an Herod., in: Diogenes Laert.: Vitae X, 48.
[16]
Vgl. Demokrit: Frg. 68, A 135. VS 2, 114ff. (Theophrast: De sensibus 50. 54).
[17]
Vgl. K. von Fritz: Grundprobl. der Gesch. der ant. Wiss. (1971) 612; vgl. 614.
[18]
Aristoteles: De sensu 438 a 5–12; vgl. Lindberg, a.O. [6] 3/21.
[19]
Vgl. Parmenides: VS 28, B 8; weitere Nachweise bei D. de Chapeaurouge: ‘Das Auge ist ein Herr, das Ohr ein Knecht.ʼ Der Weg von der mittelalterl. zur abstrakten Malerei (1983) 1–14; vgl. Art. ‹Sphäre›.
[20]
Platon: Resp. 507 e.
[21]
Symp. 211 b 2ff.
[22]
Vgl. Phaedr. 250 d; Tim. 45 a ff.
[23]
Phaedr. 251 b; vgl. Charm. 155 c f.
[24]
Symp. 219 a.
[25]
So die These Luthers, a.O. [2] 489.
[26]
Platon: Charm. 167 b.
[27]
Phaedo 65 e.
[28]
Blumenberg, a.O. [81 zu I.] 190.
[29]
Platon: Resp. 517 b.
[30]
Resp. 533 d.
[31]
Vgl. Luther, a.O. [2] 481f.
[32]
Vgl. G. Rudberg: Hellenisches Schauen. Classica mediaev. 5 (1942) 159–186; zum semant. Spektrum der plat. θεωρία vgl. H. Rausch: Theoria. Von ihrer sakralen zur philos. Bedeut. (1982) 48ff.
[33]
Platon: Resp. 597 a ff.; Soph. 235 c ff.; vgl. B. Schweitzer: Plato und die bildende Kunst der Griechen (1953); G. Boehm: Stud. zur Perspektivität. Philos. und Kunst in der frühen Neuzeit (1969) bes. 42ff.
[34]
Aristoteles: Met. I, 1, 980 a 26.
[35]
Vgl. Meteor. III, 4, 373 a 35–b 13; weitere Belege bei Simon, a.O. [6] 47–49/60f.
[36]
Aristoteles: De an. 419 a 12ff.
[37]
418 b 9ff.
[38]
425 b 12f.
[39]
Vgl. W. Bröcker: Aristoteles (31964) 148.
[40]
Vgl. Lindberg, a.O. [6] 9ff./32ff.
[41]
Plotin: Enn. V, 1 (10), 7, 4ff.
[42]
H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt (21983) 42; vgl. a.O. [73 zu I.] bes. 442.
[43]
Plotin: Enn. I, 6 (1), 4, 12f.
[44]
Enn. V, 3 (49), 8, 19–22.
[45]
Enn. I, 6 (1), 9, 30f.
[46]
Goethe, a.O. [21 zu I.] 324; Zahme Xenien III (1822/23), a.O. 1, 208ff.; zu den Varianten: Die Schr. zur Nat.wiss., hg. R. Matthaei u.a. (1947ff.) II/3, 389f.
[47]
Vorstud. zur Farbenlehre. Das Auge. Die Schr. zur Nat.wiss., a.O. I/3, 437.
[48]
Vgl. Lindberg, a.O. [6] 96. 98. 104. 117f. u.ö./173. 176. 181. 213 u.ö.
[49]
Augustinus: De Gen. ad litt. CSEL 28, 23.
[50]
Vgl. K. Flasch: Augustin. Einf. in sein Denken (1980) 127ff.
[51]
Augustinus: Conf. X, 35, 54; vgl. L. Wittmann: Ascensus. Der Aufstieg zur Transzendenz in der Met. Augustins (1980) 331ff.
[52]
Joh. Scotus Eriug.: Periphys. III, 186, 34f.; vgl. J. Kreuzer: Natur als Selbstwerdung Gottes. Misc. Mediaev. 21/1 (1991) 3–19.
[53]
Vgl. P. Brown: Augustine of Hippo (Berkeley 1967); dtsch.: Augustinus von Hippo (1973) 267.
[54]
Augustinus: De quant. an. 33, 75; vgl. De vera relig. 33, 62.
[55]
De immort. an. 10, 2.
[56]
Vgl. Aristoteles: De an. II, 7, 418 a.
[57]
Vgl. Simon, a.O. [6] 57ff. 73ff./67ff. 86ff.
[58]
a.O. 72/83.
[59]
dtsch. 237ff.
[60]
dtsch. 236.
[61]
Al-KindI: De radiis stellarum [De radiis stellatis], zit. bei: G. Federici Vescovini: Studi sulla prospettiva mediev. (Turin 1965) 44.
[62]
Vgl. De aspectibus, Prop. 7, in: Alkindi, Tideus und Ps.-Euklid. Drei opt. Werke, hg. A. A. Björnbo/S. Vogl (1912) 11f.
[63]
Vgl. M. Meyerhof/C. Prüfer: Die Lehre vom S. bei Hunain b. Ishâq. Arch. Gesch. Medizin 6 (1913) 29.
[64]
Vgl. H. Schipperges: Welt des Auges. Zur Theorie des S. und Kunst des Schauens (1978) 43ff.; Lindberg, a.O. [6] 33f./69f.
[65]
Avicenna Latinus: Lib. de an. seu sextus de naturalibus, hg. S. van Riet (Leiden 1972) 213f.; zit. nach der Übers. bei Lindberg, a.O. [6] 49/99.
[66]
Vgl. Aristoteles: De an. 418 a 3–6.
[67]
Alhazen: De aspectibus [Perspectiva] I, 5, hg. F. Risner (1572, ND New York 1972) 23; vgl. Lindberg, a.O. [6] 71ff./124ff.
[68]
27; vgl. Lindberg, a.O. 81/156.
[69]
II, 3, a.O. 64.
[70]
Lindberg, a.O. [6] 85/158.
[71]
86/159.
[72]
Vgl. M. Curschmann: Hören – Lesen – S. Buch und Schriftlichkeit im Selbstverständnis der volkssprachl. lit. Kultur Dtschl. um 1200. Beitr. Gesch. dtsch. Sprache Lit. 106 (1984) 218–257, bes. 234. 243f. 253; I. Illich: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand (1991) 24ff. u.ö.
[73]
Vgl. A. Koyré: Et. d'hist. de la pensée scient. (Paris 1973) 336.
[74]
Nic. Cusanus: Apol. doctae ignor. I. Philos.-theol. Schr., hg. L. Gabriel (21989) 1, 542.
[75]
a.O. 524.
[76]
Meister Eckhart: Pr. 12: Qui audit me. Dtsch. Werke, hg. J. Quint (1956ff.) 1, 201; vgl. G. Schleusener-Eichholz: Das Auge im MA (1985) I, 116–128.
[77]
Nic. Cusanus: De visione Dei I, a.O. [74] 3, 98; vgl. W. Beierwaltes: Identität und Differenz (1980) 145f.; G. Wohlfart: Mutmaßungen über das S. Gottes. Zu Cusanus' ‘De vis. Deiʼ. Philos. Jb. 93 (1986) 151–167, bes. 151f.
[78]
De vis. Dei II. VIIf., a.O. 3, 100. 116. 126.
[79]
Vgl. M. De Certeau: Nik. von Kues: Das Geheimnis eines Blickes, in: V. Bohn (Hg.): Bildlichkeit (1990) 325–356.
[80]
Vgl. N. Herold: Bild der Wahrheit – Wahrheit des Bildes. Zur Deutung des ‘Blicks aus dem Bildʼ in der Cusan. Schr. ‹De vis. Dei›, in: V. Gerhardt/N. Herold (Hg.): Wahrheit und Begründung (1985) 71–98.
[81]
Vgl. Art. ‹Anschauung, intellektuelle›. Hist. Wb. Philos. 1 (1971) 349–351.
[82]
Vgl. G. Bruno: Furori eroici I, 4 (1585); Von den heroischen Leidenschaften, hg. Ch. Bacmeister (1989) 72f.; vgl. S. Otto: Geometrie und Optik in der Philos. des M. Ficino. Philos. Jb. 98 (1991) 290–313.
[83]
Nic. Cusanus: De non-aliud II. V, a.O. [74] 2, 450f. 460f. u.ö.; vgl. 1. Kor. 13, 12.
[84]
Vgl. De coniect. XVII: De sui cognit., a.O. 2, 194ff.
[85]
De vis. Dei XV, a.O. 3, 160.
[86]
Vgl. Art. ‹Spiegel›.
[87]
Vgl. Boehm, a.O. [1 zu I.] 59f.
[88]
Nic. Cusanus: De vis. Dei VI, a.O. [74] 3, 113.
[89]
Paracelsus: Das Buch Paragranum [1530] (1565), hg. F. Strunz (1903) 71; vgl. E. Cassirer: Das Erk.problem in der Philos. und Wiss. der neueren Zeit 1 (1906, 41957, ND 1974) 218ff.
[90]
Vgl. Lindberg, a.O. [6] 154ff./274ff.
[91]
Leonardo da Vinci: Traité de la peinture (Pavia 1670, Paris 1716), hg. A. Chastel (Paris 1987); dtsch. (1990) 139 (Nr. 20).
[92]
Vgl. E. Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philos. der Renaiss. (1927, ND 1962) 167; vgl. auch: Zur Met. der symbol. Formen. Nachgel. Ms. und Texte, hg. J. M. Krois/O. Schwemmer 1 (1995) 78.
[93]
N. Poussin: Br. an M. De Noyers (April 1642). Corresp., hg. Ch. Jouanny (Paris 1911) 143; vgl. C. Goldstein: The meaning of Poussin's letter to De Noyers. The Burlington Mag. 108 (1966) 233–239.
[94]
Vgl. Leonardo, a.O. [91] dtsch. 134 (Nr. 14); vgl. 284 (Nr. 203).
[95]
F. Nietzsche: Nachgel. Frg., Frühj. 1871 12[1]. Krit. Ges.ausg., hg. G. Colli/ M. Montinari (1967ff.) 3/3, 381.
[96]
Vgl. H. Blumenberg: Die kopernikan. Wende (1965) 86; A. Koyré, a.O. [48 zu I.] dtsch. 26f.
E. Wilde: Gesch. der Optik 1–2 (1838ff., ND 1968). – J. Trouessart: Rech. sur quelques phénomènes de la vision, préc. d'un essai hist. et crit. des théories de la vision, depuis l'origine de la sci. jusqu'à nos jours (Brest 1854). – J. Hirschberg: Gesch. der Augenheilkunde 1–7 (1899ff., ND 1977). – C. Baeumker: Witelo (1908) bes. 625ff. – S. Vogl: Roger Bacons Lehre von der sinnl. Spezies und vom Sehvorgange, in: A. G. Little (Hg.): Roger Bacons Essays (Oxford 1914) 205–227. – A. Schneider: Die myst.-ekstat. Gottesschau im griech. und christl. Altertum. Philos. Jb. 31 (1918) 24–42. – A. Schneider: Der Gedanke der Erkenntnis des Gleichen durch Gleiches in antiker und patrist. Zeit, in: Abh. zur Gesch. der Philos. des MA. Festgabe C. Baeumker (1923) 65–76. – H. Cherniss: Galen and Posidonius' theory of vision. Amer. J. Philol. 54 (1933) 154–161. – A. Lejeune: Euclide et Ptolémée. Deux stades de l'optique géométr. grecque. (Löwen 1948). – V. Ronchi: Storia della luce (Bologna 21952). – A. Lejeune: Rech. sur la catoptrique grecque (Brüssel 1957). – M. Schramm: Zur Entwickl. der physiolog. Optik in der arab. Lit. Sudhoffs Arch. Gesch. Med. Nat.wiss. 43 (1959) 289–316. – F. Alessio: Per uno studio sull'ottica del trecento. Studi mediev. 3/2 (1961) 444–504. – Ch. Mugler: Dict. hist. de la terminol. opt. des grecs. Douze siècles de dialogues avec la lumière (Paris 1964). – A. C. Crombie: Early concepts of the senses and the mind. Scient. American 210 (1964) 108–116. – A. Bednarski: Die anatom. Augenbilder in den Handschr. des Roger Bacon, Joh. Peckham und Witelo. Sudhoffs Arch. Gesch. Med. Nat.wiss. 24 (1965) 60–78. – W. Jablonski s. Anm. [12]. – W. Luther s. Anm. [2]. – B. S. Eastwood: Mediaeval empiricism: The case of Grosseteste's optics. Speculum 43 (1968) 306–321. – H. K. Kohlenberger: Zur Met. des Visuellen bei Anselm von Cant. Analecta Anselm. 1 (1969) 11–37. – F. Thordarson: ὉΡΩ – ΒΛΕΠΩ – ΘΕΩΡΩ. Some semantic remarks. Symb. Osloenses 46 (1971) 108–130. – D. C. Lindberg s. Anm. [6] (mit umfangreicher Bibliogr.). – M. Putscher: S. – Bild – Erinnerung, in: Putscher (Hg.): Die fünf Sinne. Beitr. zu einer medizin. Psychol. (1978) 63–73, bes. 63ff. – A. Dihle: Vom sonnenhaften Auge. Jb. Antike Christentum, Suppl. 10 (1983) 85–91. – M. Schmidt: Das Auge als Symbol der Erleuchtung bei Ephräm und Parallelen in der Mystik des MA. Oriens Christianus 68 (1984) 27–57. – G. Schleusener-Eichholz s. Anm. [76]. – W. Beierwaltes: Visio facialis. S. im Angesicht. Sber. Bayer. Akad. Wiss., Phil.-hist. Kl. (1988) 1–56. – G. Simon s. Anm. [6]. – K. H. Tachau: Vision and certitude in the age of Ockham. Optics, epistemology, and the found. of semantics 1250–1345 (Leiden/New York 1988). – M. Giesecke: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Stud. zur Vorgesch. der Informationsges. (1992) 209ff. 280ff.
III. Neuzeit: Renaissance bis Kant. – 1. Einleitung. – Die Optik Alhazens war verantwortlich für eine fundamentale Reorganisation der Theorie des S., in welcher das Auge als Bestimmungs- oder Zielort und nicht mehr als Quelle der Lichtstrahlen angesehen wurde. Alhazen entwickelte im 11. Jh. eine geometrische Theorie der Reflexion und Brechung, studierte die Eigenschaften gewölbter Spiegel und die Brechung der Lichtstrahlen im Wasser, die Scharfstellung, die Vergrößerung, die Farben einschließlich natürlicher und künstlicher Regenbögen. Auf seine Arbeit bezieht sich auch Witelo, der sein Wissen dem Oxforder Experimentator Roger Bacon überlieferte, dessen eigene Arbeiten hauptsächlich handschriftlich verbreitet wurden. Die optische Literatur von Bacon bis J. B. della Porta[1], A. Kircher[2] und L. Digges[3] ist eine Mischung von zusammengetragenem praktischem Wissen, Phantasie und Spekulation über die übernatürliche Kraft der Linsen, veränderte Bilder zu produzieren. Obwohl einige Historiker annehmen, Bacon und della Porta hätten die Vorteile eines zusammengesetzten Linsensystems verstanden und hätten fernrohrartige Instrumente zum S. auf größere Distanzen benutzt, beziehen sich die relevanten Passagen eher auf einfache Brillengläser [4]. Der Anschein der natürlichen Magie und die Assoziierung der Linsen mit Illusion und Täuschung war ein fragwürdiges Produkt der Faszination durch die ‘Geheimnisseʼ der optischen Gesetze des späten MA und der Renaissance [5].
G. Galilei betonte als erster die Wichtigkeit der optischen Gesetze für die Weiterentwicklung des Wissens über die Natur in der Kontroverse mit seinen Kritikern über die Wirklichkeitstreue des Teleskops, gefolgt von der Publikation seines ‹Sidereus Nuncius› (1610) [6], und J. Kepler zeigte, daß die natürliche und die künstliche Optik die gleichen mathematischen Prinzipien und natürlichen Strukturen nutzen.
[1]
J. B. della Porta: Magia nat. lib. XX (Neapel 1589).
[2]
A. Kircher: Ars magna lucis et umbrae (Rom 1646).
[3]
L. Digges: Pantometria (London 1571).
[4]
A. van Helden: The invention of the telescope (Philadelphia 1977) 12ff.
[5]
V. Ronchi: The gen. influence of the development of optics in the 17th cent, in: A. de Beer (Hg.): Vistas in astronomy 9 (Oxford 1968) 123–133.
[6]
G. Galilei: Sidereus nuncius (1610). Opere, hg. A. Favaro 3 (Florenz 1891–1909).
2. Entwicklung der Sehtheorien. – Die Thesen von der Lichtemission des Auges und der Sensitivität der Linse gehören zu jenen Grundsätzen der mittelalterlichen Optiken, die von Kepler überwunden werden; gleichwohl hält er an der Farbe als einer realen Qualität fest. Seine Schrift ‹Paralipomena in Vitellionem› (1604) greift das verfügbare anatomische Wissen über das Auge auf, um im Rahmen einer mathematisch begründeten Theorie des S. die Funktion der Hornhaut, des Glaskörpers, der Linsen und der Netzhaut zu erklären. Das Auge fängt demnach weder ein Abbild aus der Luft auf, noch funktioniert es wie eine Camera obscura. Die Refraktion und Rekonvergenz der Strahlen werden vielmehr von einer Linse geleistet [1]. Punkt für Punkt zeichnet sich auf der Netzhaut ein farbiges, aber umgekehrtes Bild als Kopie des gesehenen Objekts ab; dieses Bild wird dann ins Innere des Gehirns weitergeleitet und dem inneren Sehvermögen zugeführt.
R. Descartes übernimmt diese Interpretation der Augenanatomie, doch seine mechanische Erklärung des S. bewirkt darüber hinaus zahlreiche Veränderungen. In den ‹Regulae› führt er aus, daß der Prozeß des S. selbst passiv sei, obwohl die Wendung des Auges auf ein Objekt als eine Tätigkeit verstanden werden müsse. Das Wahrgenommene werde der ersten opaken Membran durch vielfarbiges Licht aufgeprägt, so wie die Oberfläche des Wachses von einem Siegel gestempelt wird [2]. Bereits in der postum veröffentlichten Schrift ‹Le Monde› (ca. 1630) wird Licht unterschieden in a) die visuelle Sensation und b) die Ursache der Sinneswahrnehmung. Die ‹Dioptrique› von 1637 verbindet die Analyse des Sehvermögens mit einer Korpuskulartheorie, die eine Reduktion von Qualitäten nach dem von Galilei gegebenen Beispiel vornimmt [3]. Descartes weist daraufhin, «qu'il n'est pas besoin de supposer qu'il passe quelque chose de materiel depuis les obiects iusques a nos yeux, pour nous faire voir les couleurs & la lumiere» [4]. Damit verwirft er neoepikureische Sehkonzeptionen wie diejenige Gassendis, die eine allmähliche Abnutzung des Sehgegenstandes unterstellen. Für Descartes schließt das S. eine «action» oder «Störung» («empescher») ein, deren Effekte sich wie beim Zerreißen eines Seils augenblicklich im erleuchteten Äther ausbreiten [5]. Das Zustandekommen des Farbeindrucks hängt demnach von der Art und Weise ab, in der der Lichtstrahl und die Oberflächenpartikel des farbigen Körpers in Wechselwirkung treten und dessen «Aktionen» verändern [6]. Der Geist wird angeregt, Erfahrungen hervorzubringen, die ihren Ursachen nur strukturell gleichen wie «un peu d'encre posée ca & là sur du papier, nous representent des forets, des villes, des hommes, & mesme des batailles & des tempestes» [7]. Die genaue Positionierung des wahrgenommenen Objekts muß vom Wissen über die Position unserer Gliedmaßen, von den Anpassungsleistungen des fokussierenden Auges und von einer «geometrie naturelle» [8] abgeleitet oder berechnet werden. Damit wird erneut eine aktive, wenn auch automatische Komponente ins S. eingeführt. Überdies gestaltet das Bewußtsein die aufgenommene Form durch Faktoren wie Wissen oder Meinung mit, so daß das ursprünglich abgedruckte Bild überprüft und nach Bedarf korrigiert werden kann. Dementsprechend wird das Netzhautbild eines Ovals oder Rhombus als Kreis oder Quadrat erkannt.
Descartes folgt einer gängigen Auffassung, wenn er in der ‹Dioptrique› betont, daß unter unsern Sinnen «la veüe ... le plus universel & le plus noble» sei [9]. Er lobt das Teleskop und weist darauf hin, daß es wünschenswert wäre, Mikroskope zu entwerfen und zu bauen, um die Details des menschlichen Körpers zu untersuchen und eine rationale Medizin zu schaffen [10]. Seine späten Werke (‹Meditationes de prima philosophia› und ‹Principia philosophiae›) enthalten freilich eine eher spekulative als empirische Korpuskulartheorie. Die Anfälligkeit der Sinne für Täuschungen wird hervorgehoben. Ihre Aufgabe erkennt Descartes nun nicht mehr so sehr in der Erschließung des Wissens als in der Erhaltung des Körpers, und es bleibt den kognitiven Fähigkeiten vorbehalten, ein Wissen höheren Rangs hervorzubringen [11].
Zu den Begleiterscheinungen des späten Cartesianismus gehört eine Abwertung der sinnlichen Erfahrung, die der augustinischen kaum nachsteht. Das zeigt sich bei N. Malebranche, der einerseits von optischer Theorie und visuellen Phänomenen fasziniert ist und doch gleichzeitig erklärt, daß der Geist ohne jegliche Erfahrung des S. denken kann [12]. Die Abwertung des Wahrnehmens gegenüber dem Erkennen war bereits mit Descartes' Charakterisierung von Wahrnehmung und Gefühl als ‘konfusen Modiʼ vorbereitet worden: Eine mehrfarbige, aus der Distanz gesehene Fläche wird einfarbig erscheinen, weil die Stimuli, die auf uns wirken, einzeln nicht wahrgenommen werden können [13]. Die Cartesianische Charakterisierung der sinnlichen Erfahrung als verworrenen Prozeß der Erkenntnis findet sich, um moralische Konnotationen erweitert, auch bei G. W. Leibniz, für den jedoch die Welt der Erfahrung als konfuse Erscheinung einer zugrundeliegenden, unsichtbaren Ordnung grundsätzlich begreifbar gemacht werden kann [14].
Die Unterscheidung zwischen primären (Ausdehnung, Form, Bewegung) und sekundären (Farbe, Textur) sichtbaren Qualitäten herrscht im 17. Jh. vor. Sie wird von R. Boyle und J. Locke ausgearbeitet und vertieft, dann aber von G. Berkeley in Frage gestellt. Größe, Form und Bewegung sind nach Berkeley ebenso betrachterabhängig wie die Farbe [15]. Berkeley rückt von der korpuskulartheoretischen Erklärung des S. ab und gibt zu bedenken, daß Körper durch Berührung keine Erfahrungen produzieren könnten. Die Erklärungslücke, die durch die Diskrepanz zwischen den Mechanismen der Wahrnehmung, also den Bewegungen des Gehirns, auf der einen Seite und der visuellen Erfahrung auf der anderen Seite geblieben war, war für die Cartesianer in der Tat ein wunder Punkt, den sie aber in einen metaphysischen bzw. theologischen Vorzug umdeuteten. Descartes hatte angenommen, daß die Erfahrung des S. dem Sinn «eingeboren» («innata») sei, so daß wir also über einen Vorrat an Ideen der Farben usw. verfügen, die durch mechanische Stimuli abgerufen werden. P. Bayle bemerkt in diesem Zusammenhang die seltsame menschliche Fähigkeit, nach Wunsch Bilder in der Phantasie zu erzeugen, die wir niemals zeichnen könnten [16]. In seiner Antwort auf die von Descartes hinterlassene Zweideutigkeit legt Malebranche dar, daß materielle Objekte keine sichtbaren Erfahrungen hervorzubringen vermöchten – tatsächlich können sie überhaupt nicht in Aktion treten –, und schließt daraus, daß wir eigentlich «alle Dinge in Gott» sehen [17]. Leibniz wiederum räumt ein, daß alle sichtbaren Qualitäten in winzige mechanische Ursachen aufgelöst werden könnten und daß der Geist in einer organischen Maschine verkörpert sei. Er behauptet allerdings auch, daß Wahrnehmung stets die Eigenschaft einer «substance simple» sei und daß sie niemals das Ergebnis mechanischer Operationen sein könne, welchen Komplexitätsgrads auch immer [18]. Der Phänomenalismus schließlich – die Lehre also, daß es Erscheinungen einfach gibt, ohne daß eine wißbare materielle Realität sie produzierte –, ist die philosophische Gegenposition zu den atomistischen und mechanistischen Theorien des 17. Jh. Als Exponent dieser Lehre vergeistigt Berkeley die Wahrnehmungstheorie und behauptet, daß – wenn die unmittelbaren Wahrnehmungsobjekte sichtbare «Ideen» sind – nur die Geister und deren Ideen wirklich seien. In der Natur, die eine Sequenz sinnlicher «Zeichen» ist, gibt es für ihn kein kausales Hervorbringen [19].
Die alte Beobachtung, daß die Pupille des Auges ein Bild reflektiert, wird in R. Cudworths Beschreibung der Pupille als spiegelgleich erneut aufgegriffen [20], und J. O. de La Mettrie vergleicht das Auge wiederum mit einer magischen Laterne [21]. Inwieweit Modellbildungen wie Spiegel und Camera obscura in der frühen Neuzeit auf repräsentationalistische Theorien des S. Einfluß gewonnen haben, ist schwer zu sagen [22]. Kepler wie Descartes[23] weisen auf die Fehlerhaftigkeit namentlich der Camera-obscura-Analogie hin. Descartes bemerkt, das Auge eines frisch geschlachteten Ochsen könne dazu benutzt werden, auf einen Bogen Papier ein perfektes Bild der äußeren Szene zu projizieren [24], doch er bestreitet die Relevanz des Netzhautbildes für die Wahrnehmung und weist darauf hin, daß wir keine Augen im Gehirn haben, um diese Bilder zu sehen. Locke zieht den Schluß, daß das, was wir sehen und wissen, eher geistige Inhalte oder «Ideen» als Objekte in einer äußeren Welt sind; eindeutig vom Camera-obscura-Modell beeinflußt, erklärt er, der Geist sei «einer vom Licht völlig isolierten Kammer nicht unähnlich» [25]. Descartes wie Malebranche vertreten die Auffassung, daß unsere Wahrnehmung der äußeren Welt nur dadurch geschieht, daß wir Ideen haben, nicht aber, daß das, was wir sehen, unsere Ideen sind [26]. Unter Lockes Einfluß mündet die Theorie der Ideen in den Skeptizismus von D. Hume, der behauptet, daß es keinen Grund dafür gebe, an außerhalb von uns existierende Objekte zu glauben [27], und in die Bemühungen Kants, «reine Anschauungen», die in äußeren Dingen nicht begründet sind, von denjenigen Anschauungen zu unterscheiden, die wir auf die äußere Realität beziehen und in gesetzmäßige Formen zu bringen versuchen [28]. Kurzfristig war dieser Schwierigkeit nicht nur von Seiten des Phänomenalismus, wie bei Leibniz, sondern durch verschiedene Formen des «direkten Realismus» begegnet worden: Obwohl A. Arnauld die These Malebranches akzeptiert, daß das unmittelbar wahrgenommene Objekt eine Idee ist, behauptet er doch, daß die äußeren Gegenstände, wenngleich vom Geist entfernt, so doch objektiv erkennbar seien und daß sie ein direktes, visuelles Wissen von den materiellen Dingen vermittelten [29].
Der optisch-mechanischen Theorie des S. ist nachträglich vorgehalten worden, sie begünstige die Entfremdung zwischen Subjekt und Objekt, sie verdingliche die Natur, erleichtere die Ausbeutung und Verschwendung ihrer Ressourcen und unterdrücke die Verbindung zwischen S. und Sinnlichkeit [30]. Auf ähnliche Art und Weise ist die historische Modifikation der Perspektiven in der Malerei, in der ein erweiterter geometrisierter Raum mit dem Auge eines körperlosen Zuschauers korrespondiert, mit den Möglichkeiten der Überwachung und Kontrolle in Zusammenhang gebracht worden, über die der moderne Staat verfüge [31]. Der innere Wahrnehmungsraum, wie ihn die neuzeitlichen Sehtheorien favorisieren, wird in solchen Darstellungen mit der entstehenden Privatsphäre parallelisiert. Derartige Analogien müssen im Hinblick auf die Gesamtheit partikularer Mechanismen bewertet werden, die allesamt an der Entstehung des modernen Denkens beteiligt waren. Die Neigung zum objektiven S. und die Tendenz zur Vereinzelung scheinen einander in der Tat zu begünstigen. Leibniz charakterisiert die Einzelmonade als «lebendigen Spiegel» («miroir vivant»), der die Welt einzigartig und gemäß der Qualität und Sensitivität seiner optischen Ausstattung und seines relativen Standpunkts sowie in Übereinstimmung mit seiner hierarchischen Stellung im Monadenkosmos aufnimmt [32].
3. Psychologie des S. – In den philosophischen Debatten der frühen Neuzeit werden visuelle Phänomene – zumindest explizit – vergleichsweise wenig thematisiert. Demgegenüber gibt es ein wachsendes Bewußtsein von der assoziativen, integrativen und interpretativen Rolle, die der Geist spielt.
Der «blinde Fleck» wird von E. Mariotte entdeckt [33]. Unterdessen beschreibt Malebranche Gestalt-Phänomene wie die Fähigkeit, unmittelbar die Gesichtsausdrücke von Menschen und Tieren zu interpretieren [34]. In seinem ‹Essay Towards a New Theory of Vision› (1709) löst Berkeley das Problem der Distanzwahrnehmung auf originelle Weise und führt aus, daß die «Äußerlichkeit» der Wahrnehmungswelt und spezifische Urteile über die Distanz das Ergebnis von Assoziationen zwischen «taktilen», d.h. kinästhetischen, und visuellen Erfahrungen sind [35]. Die von W. Molyneux aufgeworfene Frage [36], ob visuelle und haptische Erfahrungen sich auf denselben Gegenstand beziehen und in irgendeiner Relation zueinander stehen oder aber einfach paarweise assoziiert, gelernt und erinnert werden, erörterte man anhand der Erfahrung eines blindgeborenen und zum S. gebrachten Menschen [37]. Leibniz entwickelt die cartesianische Lehre der «Konfusion» weiter und lenkt dabei die Aufmerksamkeit wiederholt auf die Bedeutung der ‘unterschwelligenʼ Wahrnehmung («sensation») [38]. Diese Lehre wird von Ch. Wolff[39] weiter ausgeführt und dann von Kant zurückgewiesen. Dessen Unterscheidung zwischen sinnlicher Anschauung und Verstandesbegriffen dient dazu, Erfahrung und Erkenntnis deutlich zu unterscheiden [40]. Wahrnehmung ist demnach passiv, Erkenntnis aktiv. Zugleich betrachtet Kant die Erfahrung jedoch als das Vermögen, durch Begriffe geformte sinnliche Anschauungen zu haben, so daß das Ereignis, ein Objekt zu sehen, den Beitrag des Subjekts einschließt.
4. S. und Intuition. – Der Tendenz der frühneuzeitlichen Philosophie, S. und Verstehen als Gegensätze aufzufassen, steht die geläufige Berufung auf den Gesichtssinn als Metapher für intellektuelles Verstehen gegenüber. Die in der Optikgeschichte überlieferte, in der Neuzeit allerdings längst verdrängte Sehstrahltheorie überdauert als Hintergrundvorstellung für eine Auffassung, die den Intellekt als eine Art Scheinwerfer zum Aufspüren von Wahrheiten auffaßt. Der Auskunft von Spr. 20, 27, wo das Verstehen als «die Leuchte Jahwes» (φῶς κυρίου, «lucerna domini») beschrieben ist, kommt in einem Zeitalter mathematischer und physikalischer Entdeckungen eine veränderte Bedeutung zu. Die Lichtmetaphysik des MA war durch die Renaissance weitergereicht und auch durch Kepler noch einmal in Erinnerung gerufen worden: Die Lichtsphäre, heißt es bei Kepler, die von einer Quelle in alle Richtungen ausstrahlt, sei in Analogie zur Erleuchtung des Verstandes zu verstehen [41]. Offensichtlich bestätigt wird diese Auffassung in Descartes' Erläuterung des ‘geistigen S.ʼ, die das Begreifen physikalischer und mathematischer Theoreme mit der Fähigkeit von Handwerkern, feinste Unterschiede an den Dingen wahrzunehmen, vergleicht [42]. Dem Moment der Erleuchtung wird kontrastiv die Beweismethode der Scholastiker gegenübergestellt [43]. Die augustinische Spannung zwischen dem «Licht der Natur» und dem «Licht der Gnade» wiederum wird in der spirituellen Optik – etwa bei N. Culverwell – erneut aufgegriffen [44]. In der Anbetungs- und Liebesdichtung der Renaissance und der elisabethanischen Zeit bis hin zur Literatur der Klassik und Romantik spielen Motive aus dem Umkreis des S. eine bedeutende Rolle.
5. Praktische Optik. – Die frühe Neuzeit ist eine Zeit optischer Erfindungen und technologischer Innovationen, die den Horizont sowohl in die Weite und in den Mikrobereich ausdehnen. Die Theorie optischer Apparate, an der die Jesuiten besonderes Interesse hatten [45], wird von Ch. Scheiner, J. Kepler, R. Descartes, Ch. Huygens und anderen entwickelt und erörtert. Teleskop und Mikroskop verbreiten sich und werden von G. Galilei und R. Hooke gegen eine teilweise vehement vorgetragene Kritik verteidigt [46]. Galilei benutzt das Teleskop, um die Phasen der Venus und die Monde des Jupiter nachzuweisen; dabei löst er eine Kontroverse über die Zuverlässigkeit seines Instruments und die Aussagekraft der Gesichtswahrnehmung aus. Verschiedene Formen einzelner Linsen und Mikroskope geraten – teilweise als Spielzeug – in Umlauf und werden systematisch eingesetzt von A. van Leeuwenhoek, M. Malpighi und J. Swammerdam. Das Wissen der Naturhistoriker wird um die Entdeckung neuer, unterhalb der Sichtbarkeitsschwelle existierender Lebensformen bereichert. Im Gefolge dieser Sichtfelderweiterungen verändert sich auch das Gefüge und das Selbstverständnis der wissenschaftlichen Disziplinen, das gelegentlich satirische Kommentare herausfordert [47]. Neben Keplers Abhandlung über die Schneeflocke [48] schlagen auch Th. Brownes Betrachtungen über geometrische Formen und Muster in der Natur eine Brücke zwischen Ästhetik und Naturgeschichte [49]. Im Anschluß an F. Bacon verwendet R. Hooke das S. als Reise-Metapher, um das optische Angebot des Mikroskops als Zugang zu einer «neuen Welt» zu empfehlen [50].
Der Gefährdung religiöser und moralischer Werte, die manche Zeitgenossen dieses Umbruchs von der neuen Permissivität des S. befürchten, begegnet man auf verschiedene Art und Weise. Den Warnungen vor Ablenkung und Zerstreuung steht die Rechtfertigung visueller Erfahrungen als Bedingungen kulturellen, intellektuellen und moralischen Fortschritts gegenüber. J. A. Comenius betont die Bedeutung bildhafter Repräsentation im Sprachunterricht und in der Pädagogik ganz allgemein [51]. W. Harvey beharrt auf der Unverzichtbarkeit der Beobachtung aus erster Hand und zieht sie der verbalen Beschreibung ebenso vor wie der Illustration [52]. Wie andere europäische Wissenschaftsgesellschaften auch, sammelt die ‹Royal Society› seit 1665 Augenzeugenberichte und Protokolle experimenteller Erfahrungen [53]. Im 18. Jh. erleichtern verbesserte Methoden der Vervielfältigung die weite Verbreitung illustrierter Abhandlungen, die ihren Teil zur Entstehung einer breiten Bürgerkultur beitragen. Die vielen neuaufgekommenen Sehtheorien und optischen Erfindungen veranlassen J. Priestley gegen Ende des Jahrhunderts dazu, eine umfassende Geschichte über «vision, light, and colours» zu verfassen [54].
6. Ethische und ästhetische Bedeutung des S. – Der überlieferte Primat des S. wird von Leonardo da Vinci aufrechterhalten, wenn er behauptet, daß Tiere durch den Verlust des S. mehr Schaden erleiden als durch den Verlust des Hörens. Der Gesichtssinn sei notwendig, um Nahrung zu finden und Schönheit wahrzunehmen, die der Grund der Liebe und somit der Fortpflanzung ist. Während der Philosoph ins Innere der Körper eindringt, um deren natürliche Vermögen zu entdecken, entdeckt der Maler – nicht weniger verdienstvoll – ihre Oberfläche, Gestalt und Farbe [55]. Erstmals qualifiziert Leonardo das Wissen des Malers von Licht und Farbe, von der Perspektive, von der Anatomie und von den Mechanismen der Bewegung als intellektuelle Fertigkeit [56]. Überdies behauptet er die Überlegenheit der Malerei gegenüber der Poesie: Sprache ist vom Menschen erfunden und bringt deren Werk zur Geltung, die Malerei jedoch ist die Entdeckung einer Wissenschaft und bringt die Werke der Natur zur Geltung [57].
Die Ökonomisierung der niederländischen Kunst im 17. Jh. markiert eine Wende auch in der Geschichte des S. Die Produktion von Gemälden für die Bürgerhaushalte verlangt nach neuen Bildmotiven und einer veränderten Darstellungsweise. Heroische, narrative und dramatische Genres werden durch Genreszenen aus dem Familien- und Stadtleben abgelöst. Die «diskrete Partikularität» [58] der Stilleben und Innenansichten korrespondiert mit dem Wahrnehmungsideal des zeitgenössischen wissenschaftlichen Empirismus, der dem sichtbaren Detail und der Funktionsweise der Dinge als solchen – ohne Berücksichtigung ihrer symbolischen oder historischen Bedeutungskonvention – Bedeutung beimißt [59]. Dieses Bemühen um Darstellungsgenauigkeit kontrastiert freilich lebhaft mit der Formenvielfalt des Barock. Das Interesse an anamorphotischen Phänomenen, an der optischen Bizarrerie und am Manierierten widerstreitet den Klassifikationssystemen und Taxonomien, dem Insistieren auf Klarheit und Genauigkeit, wie sie der frühen Neuzeit gewöhnlich pauschal zugeschrieben werden [60].
Die Fragen nach der Eignung der bildenden Kunst für die visuelle Erkenntnis und für moralische Vervollkommnung bestimmen die ästhetischen Debatten des frühen 18. Jh. In seinen ‹Reflexions critiques sur la poésie et sur la peinture› (1719) führt Abbé du Bois die Idee der «Kennerschaft» ein [61]. Die physiognomischen Studien von Ch. Le Brun im ‹Traité des passions de l'âme› (1648) führen Descartes' Analyse der Leidenschaften fort und zeigen, wie man verschiedene Geisteszustände in der Malerei darstellen kann: Das Ergebnis ist eine Aufwertung des Gefühls und der Empfindsamkeit, die die neostoizistischen Tendenzen der Epoche schwächt. J. Richardson behauptet, daß es gewisse Ideen gibt, die nicht in Worten mitgeteilt werden können, sondern nur mittels Malerei und Skulptur [62]. Die Malerei setzt «die äußersten Grenzen des menschlichen Vermögens in der Mitteilung von Ideen», und der allgemeine Unterricht im Zeichnen, erklärt er weiter, werde die Rationalität der ganzen Nation um «einige Grade» heben [63]. Schon Richardson plädiert für den «unschuldigen und edlen Gebrauch der Sinne». Diese Ansichten werden von G. Berkeley aufgegriffen, der den Genuß als das Summum bonum und als das «great principle of morality» beschreibt [64]. Die sichtbare Welt ist entzifferbar wie eine «visual language», die uns belehrt und erfreut [65].
Catherine Wilson
[1]
J. Kepler: Par. in Vit. (1604). Ges. Werke, hg. F. Hammer 2 (1939) 151ff.
[2]
R. Descartes: Reg. ad dir. ing. 12 [1628/29]. Oeuvr., hg. Ch. Adam/R. Tannery [A/T] (Paris 1897–1913) 10, 412.
[3]
G. Galilei: Il saggiatore (1623), a.O. [6 zu 1.] 6, 85.
[4]
R. Descartes: Dioptr. 1 (1637). A/T 6, 85.
[5]
a.O. 88.
[6]
89f.
[7]
Dioptr. 4, a.O. 113.
[8]
Dioptr. 6, a.O. 135–140.
[9]
Dioptr. 1, a.O. 81.
[10]
Dioptr. 9: La descript. des lunettes, a.O. 196ff.
[11]
Medit. 2 (1641), a.O. 7, 32f.; Medit. 6, a.O. 84f.; Princ. philos. II, 3 (1644), a.O. 8/1, 41f.
[12]
N. Malebranche: De la rech. de la vérité III, 1, ch. 1 (1674/75). Oeuvr. compl., hg. A. Robinet (Paris 1958–67) 1, 379–383.
[13]
R. Descartes: Dioptr. 6. A/T 6, 132ff.
[14]
G. W. Leibniz: Princ. de la nat. et de la grace, fondés en raison [1714]. Philos. Schr., hg. C. I. Gerhardt 6 (1885, ND 1961) 598ff.
[15]
G. Berkeley: Princ. of human knowledge (1710). Works, hg. A. A. Luce/T. E. Jessop (London 1948–57) 2, 46f.
[16]
P. Bayle: Reponse aux questions d'un provincial 2, ch. 140 (1705). Oeuvr. div. (Den Haag 1727–31, ND 1964–68) 3, 786f.
[17]
N. Malebranche: Rech. de la vér. III, 2, ch. 5, a.O. [12] 1, 437.
[18]
Leibniz: Monadol. § 17 [1714], a.O. [14] 609.
[19]
G. Berkeley: Princ. § 30, a.O. [15] 462.
[20]
R. Cudworth: Treat. conc. eternal and immut. morality (1731) 150.
[21]
J. O. de La Mettrie: L'homme machine (1747/48). Oeuvr. philos. (21774, ND 1970) 2, 309.
[22]
R. Hooke: Lect. of light [1680–82]. The posthum. works, hg. R. Waller (London 1705) 71–148; dazu: R. Rorty: Philos. and the mirror of nature (Princeton 1979) 49f.
[23]
Kepler, a.O. [1] 153; Descartes: Dioptr. 5. A/T 6, 124f.; vgl. 6, a.O. 130.
[24]
Descartes: Dioptr. 5, a.O. 115f.
[25]
J. Locke: Essay conc. human underst. 2, 11, § 17 hg. P. H. Nidditch (Oxford 1975) 163; vgl. auch: J. Yolton: Perceptual acquaintance from Descartes to Reid (Minneapolis 1984) 121f.
[26]
Descartes: Dioptr. 1. A/T 6, 85; Malebranche: Rech. III, 2, ch. 7, § 3, a.O. [12] 450.
[27]
D. Hume: Treat. of human nat. I, 4, 2 (1739/40), hg. L. A. Selby-Bigge/P. H. Nidditch (Oxford 21978) 187–218.
[28]
I. Kant: KrV B 35.
[29]
A. Arnauld: Des vraies et des fausses idées (Köln 1683) 206ff.
[30]
M. Jay: Scopic regimes of modernity, in: H. Foster (Hg.): Vision and visuality (Seattle 1988) 8–11.
[31]
M. Foucault: Surveiller et punir (Paris 1975); dtsch.: Überwachen und Strafen (1976).
[32]
G. W. Leibniz: Princ. § 3, a.O. [14] 599.
[33]
E. Mariotte: Obs. sur l'organe de vision (1668).
[34]
N. Malebranche: Eclairciss. 17, Rech. de la vér. § 25–27, a.O. [12] 3, 326–328.
[35]
G. Berkeley: An ess. towards a new theory ofvision § 12–25 (1709), a.O. [15] 1, 173–176; vgl. auch: M. Atherton: Berkeley's revol. in vision (Ithaca 1990) 89–108.
[36]
W. Molyneux: Br. an J. Locke (2. März 1693), in: J. Locke: Corresp. 4, hg. E. S. de Beer (Oxford 1979) 651; J. Locke: Ess. II, 9, § 8 (21694), a.O. [25] 145f.; vgl. G. Berkeley: An ess. §§ 132–136, a.O. [15] 1, 225f.
[37]
Vgl. D. Park: Locke and Berkeley and the Molyneux Problem. J. Hist. Ideas 30 (1969) 253–260; M. J. Morgan: Molyneux's question. vision, touch and the philos. of perception (Cambridge 1977).
[38]
G. W. Leibniz: Nouv. ess. II, 1, §§ 16ff. [1710] (1765). Akad.-A. VI/6 (1962) 116ff.
[39]
Ch. Wolff: Vern. Ged. von den Kräfften des menschl. Verstandes [Dtsch. Logik] 1, § 22f. (1713, ND 1965).
[40]
I. Kant: KrV A 271/B 327.
[41]
E. von Samsonow: Die Erzeugung des Sichtbaren (1986).
[42]
Descartes: Reg. ad dir. ing. 9. A/T 10, 400f.
[43]
Reg. 3, a.O. 365.
[44]
N. Culverwell: Spiritual opticks (London 1652).
[45]
P. Dear: Jesuit math. sci. and the reconstitution of experience in the early 17th cent. Stud. Hist. Philos. Sci. 18 (1987) 133–175.
[46]
Galilei, a.O. [6 zu 1.] 313ff.; R. Hooke: Micrographia or some physiolog. consid. of minute bodies made by magnifying glasses (London 1665).
[47]
z.B. J. Swift: Gulliver's travels (London 1726).
[48]
J. Kepler: De nive [1604?].
[49]
Th. Browne: Religio medici (London 1642); The garden of Cyrus (London 1658).
[50]
R. Hooke: Micrographia (London 1665) Pref.
[51]
J. A. Comenius: Große Didaktik (1657), hg. A. Flitner (1992) 110ff.
[52]
W. Harvey: Exercit. in generationem (1651). Works 10 (London 1847) 10.
[53]
S. Shapin/S. Schaffer: Leviathan and the air-pump (Princeton 1985).
[54]
J. Priestley: The hist. and present state of discov. rel. to vision, light, and colours (London 1772, ND Millwood 1978).
[55]
Leonardo da Vinci: Paragone, Tratt. della pitt. § 11, hg. G. Manzi (Rom 1817) 10.
[56]
Par. §§ 32–34, a.O. 32–36.
[57]
§ 46, a.O. 48.
[58]
S. Alpers: The art of describing (Chicago 1985) 72–118; dtsch.: Kunst als Beschreibung (1985) 77.
[59]
a.O. XIXff.
[60]
C. Buci-Glucksmann: La raison baroque. De Baudelaire à Benjamin (Paris 1984); La folie du voir: De l'esthét. baroque (Paris 1986).
[61]
Abbé du Bois: Refl. crit. sur la poésie et sur la peint. (1719) 2, 22.
[62]
J. Richardson: A disc. on the dignity, certainity, pleasure and advantage of the sci. of a connoisseur (London 1719) 17f.
[63]
a.O. 12.
[64]
G. Berkeley: Notebook A, § 769 [1707/08], a.O. [15] 1, 93.
[65]
Alciphron (1732), a.O. 3, 159ff.
E. Rosen: The invention of eyeglasses. J. Hist. Med. all. Sci. 11 (1956) 183–218. – M. Foucault s. Anm. [31]. – A. van Helden: The invention of the telescope (Philadelphia 1977). – R. Rorty s. Anm. [22]. – C. Buci-Glucksmann s. Anm. [59]. – J. Yolton s. Anm. [25]. – S. Alpers s. Anm. [58]. – S. Shapin/S. Schaffer s. Anm. [53]. – E. von Samsonow s. Anm. [41]. – J. Cray: Modernizing vision, in: H. Foster s. Anm. [30] 29–50. – M. Jay s. Anm. [30]. – M. Atherton s. Anm. [35]. – J. Green: The spectacle of nature: Landscape and bourgeois culture in 19th-cent. France (Manchester 1990).
IV. Spätes 18. Jh., 19. und 20. Jh. – Welche wichtige Rolle im 18. Jh. das S. im Erkenntnisprozeß hat, wird deutlich bei I. Kant. Er definiert den «Sinn des S.» als einen «Sinn der mittelbaren Empfindung durch eine nur für ein gewisses Organ (die Augen) empfindbare bewegte Materie, durch Licht, welches ... eine Ausströmung [ist], durch welche ein Punkt für das Object im Raume bestimmt wird, und vermittelst dessen uns das Weltgebäude in einem ... unermeßlichen Umfange bekannt wird ...» [1]. Der Sehsinn ist im Vergleich zu Tastsinn und Gehör «der edelste» der «drei äußern Sinne», die «durch Reflexion das Subject zum Erkenntniß des Gegenstandes als eines Dinges außer uns» führen, insofern sein Organ am wenigsten Affektion fühlt und deshalb einer «reinen Anschauung» am nächsten kommt [2]. Diese erkenntnistheoretische Bedeutung des S. findet sich auch bei K. Ph. Moritz, der sie allerdings modifiziert, insofern er Termini der Visualität benutzt, um die Selbstreflexion des Subjekts metaphorisch zu beschreiben: «Indem mein Gedanke von mir selber ausgeht, kann ich mich unmöglich als Objekt denken, eben so wenig, wie sich mein Auge, indem die Lichtstrahlen bloß von ihm ausgehen, ohne wieder zurückgeworfen zu werden, selber sehen kann. Allein sobald eine Idee von einem anderen Wesen aus- und auf mich übergeht, und ich z.B. sage: du siehst mich, finde ich nicht den mindesten Widerstand, mir mein Ich als Objekt oder außer mir zu denken. Die reflectirte Denkkraft macht, daß ich mich selbst außer mir erblicke, so wie man vermittelst der zurückgeworfenen Lichtstrahlen sein Antlitz im Spiegel sieht» [3]. Auch J. G. Fichte gebraucht den Begriff ‹S.› metaphorisch, und zwar zur Beschreibung der idealistischen Auffassung, daß alles Objektive nur Angeschautes und Bewußtsein des Ich ist. Bewußtsein ist für Fichte «thätiges Hinschauen, ... ein Herausschauen meiner selbst aus mir selbst ... Ich bin ein lebendiges S.» [4]. Deshalb kann Fichte die Vernunft überhaupt als S. im Sinne von Anschauung verstehen: «Die Intelligenz, als solche, sieht sich selbst zu; und dieses sich selbst S., geht unmittelbar auf alles, was sie ist, und in dieser unmittelbaren Vereinigung des Seyns, und des S., besteht die Natur der Intelligenz» [5]. G. W. F. Hegel bestimmt das S. ähnlich wie Kant als den «Sinn der Idealität», und zwar «als Manifestation des Aeußerlichen für Aeußerliches, – des Lichtes überhaupt und näher des in der concreten Aeußerlichkeit bestimmt werdenden Lichtes, der Farbe ...» [6]. Auch er würdigt den Augensinn wegen seiner Unabhängigkeit von der eigentlichen Körperlichkeit als «den edelsten Sinn», sieht ihn jedoch als sehr unvollkommen an, da er die Körper nicht als Körper, d.h. als räumliche Totalität, wahrnehme, sondern unmittelbar nur als Fläche. Gleichzeitig wird bei ihm eine gewisse Vorrangstellung des Gehörs deutlich, wenn er dem Augensinn das Ohr als den «Sinn der reinen Innerlichkeit des Körperlichen» gegenüberstellt [7].
Diese Würdigung des Gehörs mag vorbereitet sein durch eine gewisse Abwertung des Augensinns, die sich besonders bei den französischen Kritikern des Sensualismus in der Mitte des 18. Jh. findet [8]. So bekräftigt D. Diderot in seinem ‹Lettre sur les aveugles› (1749) seinen rationalistischen Ansatz und relativiert den Erkenntniswert der sinnlichen Wahrnehmung insgesamt; in den ‹Additions› von 1782 schließlich folgert er, «que l'œil n'est pas aussi utile à nos besoins ni aussi essentiel à notre bonheur qu'on serait tenté de le croire» [9]. An zahlreichen Beispielen belegt Diderot, daß das Zusammenwirken der Sinne («concours de nos sens») zwar von Nutzen ist: «Mais ce serait tout autre chose encore si nous les exercions séparément ...» [10]. Der verfeinerte Gefühlssinn, der dem Blinden das S. ersetzt, erschließe ihm Kenntnisse, die ein Sehender niemals haben könne, und führe gleichzeitig zu einer anders akzentuierten, von der Idee Gottes unabhängigen moralischen Auffassung, wie Diderot an dem fiktiven Gespräch des sterbenden blinden Mathematikers N. Saunderson mit einem Geistlichen belegt [11]. Diderots Verdacht gegen das S., das scheinhaft sei und das Wesentliche eher verstelle als erkenne, läßt sich noch bei F. Nietzsche finden [12].
Die Abwertung des S. zugunsten des Gehörs als dem Organ, dem die innere Empfindung am nächsten gebracht werden kann, wird besonders deutlich in den Sprachursprungtheorien: Für J. G. Herder ist der sich nur langsam entwickelnde Gesichtssinn «nicht der füglichste Sinn zur Sprache», weil er die Dinge weniger differenziert wahrnimmt und an ihnen nicht ihre spezifischen Merkmale erkennen kann, aufgrundderen sie begriffen und daraufhin benannt werden können. Vielmehr sei das Ohr «der erste Lehrmeister der Sprache», denn die ganze Natur erschließe sich dem Menschen wesentlich über ihr Tönen [13]. Dieser Einschätzung der Hierarchie der Sinne – zumindest in Hinsicht auf die Sprachbildung – schließt sich J. G. Fichte an, wenn er festhält: «Das Gehör leitet unwillkürlich die Augen: man richtet sich nach der Gegend, wo ein Schall herkam ... Da es der vorausgesetzten Person in der Ursprache frei steht, sich sowohl fürs Gesicht, als fürs Gehör auszudrücken, so wird Er ... auf den letztern Sinn zu wirken suchen, um die Gesellschaft vor's erste nur aufmerksam auf sich zu machen ...» [14]. Der Gedanke, daß das Gehör der ursprünglichste und innerlichste Sinn sei, ist prägend für die Literatur der Romantik, in der sich die ‘sprechende Naturʼ nur dem ‘Lauschendenʼ offenbart.
Kennzeichnend für das 19. Jh. ist die Abkehr von der Abstraktheit des spekulativen Denkens hin zu einer Philosophie auf der Basis der Sinnlichkeit, die sich wesentlich an das konkret Sichtbare der Welt hält. Zentral wird dies deutlich bei L. Feuerbach, der dem S. vor allen anderen Sinnen die Möglichkeit eines unmittelbaren Zugangs zur Wirklichkeit zuschreibt [15]. Von daher erklärt sich das verstärkte naturwissenschaftliche Interesse an einer Bestimmung des S. schon seit dem Beginn des Jahrhunderts. In der ‹Farbenlehre› (1810) stellt J. W. Goethe in Auseinandersetzung mit der Seh- und Farbtheorie I. Newtons[16] seine entwicklungsmechanische Auffassung vom S. vor, wonach das Auge erst durch zielbewußte Tätigkeit, d.h. wenn es seine Zuordnung der Umwelt zu sich selbst bzw. der Dinge untereinander vornimmt, «entschiedenes» Organ, im Sinne der Morphologie Goethes wird: «Das Auge hat sein Dasein dem Licht zu danken. Aus gleichgültigen tierischen Hülfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seinesgleichen werde, und so bildet sich das Auge am Lichte fürs Licht, damit das innere Licht dem äußeren entgegentrete» [17]. Mit dieser Gleichsetzung des Auges als dem inneren Licht mit dem äußeren Licht und so von Sinneswahrnehmung mit dem Objekt setzt sich Goethe von den physiologischen Sehtheorien ab und stützt darauf zugleich seinen Abweis der Newtonschen Lehre von den Spektralfarben.
A. Schopenhauer befaßt sich schon früh in seiner Schrift ‹Ueber das Sehn und die Farben› (1813) mit den Sehtheorien des 17. und 18. Jh. [18]. Für ihn schafft der Verstand selbst die objektive Welt, wobei ihm die Sinne «nichts weiter, als den rohen Stoff» liefern, so daß also unsere alltägliche, empirische Anschauung tatsächlich eine «intellektuale» ist [19]. Dieser objektiven Anschauung, die der Verstand erst allmählich erlernt, dienen in erster Linie der Tast- und der Sehsinn. Anders als jener bedarf das Gesicht «keiner Berührung, ja keiner Nähe: sein Feld ist unermeßlich, geht bis zu den Sternen. Sodann empfindet es die feinsten Nüancen des Lichts, des Schattens, der Farbe, der Durchsichtigkeit: es liefert also dem Verstande eine Menge fein bestimmter Data, aus welchen er, nach erlangter Uebung, die Gestalt, Größe, Entfernung und Beschaffenheit der Körper konstruirt und sogleich anschaulich darstellt» [20]. Was das S. an Empfindungen liefert, ist freilich «nichts weiter, als eine mannigfaltige Affektion der Retina, ganz ähnlich dem Anblick einer Palette, mit vielerlei bunten Farbenklexen, die erst der Verstand in Anschauung umarbeitet» [21].
Dennoch dominieren im 19. Jh. die physiologischen Auffassungen des S. [22]. Schon J. Müller rückt von der ausschließlich mechanischen Auffassung des S. ab und geht von einer spezifischen «Reizbaren Sehsinnsubstanz» des Auges aus [23]; sein Schüler H. von Helmholtz folgt ihm in dieser Auffassung im wesentlichen [24].
W. Wundt entwickelt in ‹Die Empfindung des Lichts und der Farben› (1888) auf der Basis einer Auseinandersetzung mit verschiedenen Sehtheorien seiner Zeit eigene «Grundzüge einer Theorie der Gesichtsempfindungen» [25], die sich mit dem physiologischen Vorgang im Sehorgan befassen. Anders noch als etwa J. von Kries, der von der Existenz einer Anzahl von lichtempfindlichen «Sehstoffen» im Auge, d.h. von «Stoffen, die durch Licht irgend einer chemischen Veränderung unterliegen», ausgeht [26], nimmt Wundt eine Reihe «diskontinuierlicher, nicht stetig ineinander übergehender Sehprozesse», d.h. «verschiedene Zersetzungsprozesse an einer einzigen höchst komplex zusammengesetzten lichtempfindlichen Substanz» [27] an. Auch in ‹Zur Theorie der räumlichen Gesichtswahrnehmungen› (1898) versucht Wundt eine kritische Revision der bestehenden Lehren, wobei ihn aber hier vor allem auch die psychologische Bedeutung dieser Sinneswahrnehmung interessiert [28]. – Die Kontroverse, die F. Brentano in seinen Artikeln ‹Über ein optisches Paradoxon› (1892/93) und ‹Zur Lehre von den optischen Täuschungen› (1894) mit Th. Lipps und J. L. Delboeuf führt, macht deutlich, wie nun überhaupt die Frage des Vorrangs einer physiologischen oder psychologischen Erklärung des S. mehr und mehr in den Vordergrundrückt [29].
Welche zentrale Bedeutung dem S. in der Philosophie des 20. Jh. zukommt, läßt sich paradigmatisch an L. Wittgenstein zeigen: Er bestimmt die Welt als die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte oder Tatsachen, von denen wir uns Bilder machen [30]. Dieses Bilder-Machen hat für Wittgenstein den Charakter des Entwerfens des Welt-Bildes [31], so daß es also für ihn nicht mehr (wie noch für Schopenhauer, Feuerbach und Kierkegaard) darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, noch auch (wie für Marx) sie zu verändern, sondern sie ‘richtig zu sehenʼ [32]. Dazu sei der Gebrauch einer Zeichensprache erforderlich, die nur der logischen Syntax gehorche, weil wir nur dann im Besitz einer richtigen, weil logischen Auffassung sind und die Welt der Tatsachen korrekt sehen [33].
Aber auch im Zusammenhang mit der Rehabilitation physiognomischer Auffassungen, etwa bei W. Benjamin[34] oder R. Kassner[35], sowie des alten ‘Ethosʼ des Historikers als Seher bei F. Gundolf[36] wird die Bedeutung des S. herausgestellt. Von hier aus kann das S. zum spezifischen Medium werden, das den Menschen mit der Welt vermittelt – allerdings in völlig neuer Weise als in den Jahrhunderten zuvor, wie sich exemplarisch bei M. Merleau-Ponty sehen läßt. In seinem Essay ‹L'œil et l'esprit› (1960) insistiert er – gegen Descartes und die an ihn anknüpfende neuzeitlich-rationale Auffassung des S. – darauf, daß das S. keine Denkoperation sei, durch die dem Geist gewissermaßen ein Bild von der Welt zur weiteren Bearbeitung bereitgestellt werde: «Immergé dans le visible par son corps, lui-même visible, le voyant ne s'approprie pas de qu'il voit: il l'approche seulement par le regard, il ouvre sur le monde» [37]. S. geschieht also «du milieu des choses, là, où un visible se met à voir, devient visible pour soi et par la vision de toutes choses, là où persiste ... l'indivision du sentant et du senti» [38]. Gerade im Prozeß des S. erfährt der Mensch folglich die ursprüngliche Trennung des Seins in ein Äußeres und Inneres: «On sent peut-être mieux maintenant tout ce que porte ce petit mot: voir. La vision n'est pas un certain mode de la pensée ou présence à soi: c'est le moyen qui n'est donné d'être absent de moi-même, d'assister du dedans à la fisson de l'être, au terme de laquelle seulement je me ferme sur moi» [39].
Astrid von der Lühe
[1]
I. Kant: Anthropol. in pragmat. Absicht abgefaßt I, § 19 (1798). Akad.-A. 7, 156; vgl. auch die Parallelisierung des Vorstellungsvermögens mit dem S. bei J. G. Sulzer: Anm. über den versch. Zustand, worin sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen ... befindet (1773). Verm. Schr. 1 (1773) bes. 226.
[2]
a.O.
[3]
K. Ph. Moritz: ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte (1783–93), hg. A. Bennholdt-Thomsen/A. Guzzoni (1978ff.) 4/1, 52f.; vgl. hierzu: Kestenholz, a.O. [20 zu I.] 52ff.
[4]
J. G. Fichte: Die Bestimmung des Menschen (1800). Akad.-A. I/6 (1981) 238.
[5]
Versuch einer neuen Darst. der Wiss.lehre (1797/98), Einl. 6, a.O. I/4 (1970) 196.
[6]
G. W. F. Hegel: Syst. der Philos. II: Naturphilos. 358. Jub.ausg., hg. H. Glockner 9 (1929) 624.
[7]
Syst. Philos. III: Die Philos. des Geistes 401, a.O. 10 (1929) 130f.
[8]
Zur «Konkurrenz des Hörens» in der Geschichte des S. vgl. oben Teil I.
[9]
D. Diderot: Additions à la lettre sur les aveugles (1782). Oeuvr. compl., hg. J. Assézat 1 (1875, ND 1966) 333.
[10]
Lettre sur les aveugles (1749), a.O. 288.
[11]
a.O. 307ff.
[12]
F. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse 5, 192 (1886), a.O. [95 zu II.] 6/2, 114.
[13]
J. G. Herder: Abh. über den Ursprung der Sprache I, 3 (1772), a.O. [30 zu I.] 5 (1891) 48.
[14]
J. G. Fichte: Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache (1795). Akad.-A. I/3 (1966) 104.
[15]
Konersmann, a.O. [23 zu I.] 190.
[16]
Zur Darst. der «Cause of Vision» vgl. I. Newton: Optics I, 1, Ax. 7 (1704). Op. omn., hg. S. Horsley (London 1779–85, ND 1964) 13–15.
[17]
J. W. Goethe: Zur Farbenlehre (1810) Einl. Hamb. Ausg. 13, 323; vgl. Schöne, a.O. [21 zu I.].
[18]
A. Schopenhauer: Ueber das Sehn und die Farben 1 (1816). Sämtl. Werke, hg. A. Hübscher 1 (1937) 7–20.
[19]
Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureich. Grunde 4, § 10 (1813), a.O. 53; vgl. auch: Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 4 (1819), a.O. 2 (1938) 14f.
[20]
Über die vierf. Wurzel, a.O. 55 (§ 10).
[21]
a.O. 58.
[22]
Vgl. Art. ‹Sinne›.
[23]
J. Müller: Über die phantast. Gesichtserscheinungen. Eine physiolog. Unters. (1826) 18.
[24]
H. Helmholtz: Ueber das S. des Menschen (1855). Vortr. und Reden (41896) 1, 85–118; Die neueren Fortschritte in der Theorie des S. (1868), a.O. 265–366.
[25]
W. Wundt: Die Empfindung des Lichts und der Farben (1888). Kl. Schr. 2 (1911) 201.
[26]
J. von Kries: Die Gesichtsempfindungen und ihre Analyse (1882) 158.
[27]
Wundt, a.O. [25] 263f.
[28]
Zur Theorie der räuml. Gesichtswahrnehmungen (1898), a.O. [25] 281ff.
[29]
F. Brentano: Über ein opt. Paradoxon. Z. Psychol. Physiol. Sinnesorgane 3 (1892) 349–358; 5 (1893) 61–82; Zur Lehre von den opt. Täuschungen, a.O. 6 (1894) 1–7; vgl. Rückblick auf meine Artikel über ein opt. Paradoxon (1896/97). Abh. aus dem Nachlaß, in: Unters. zur Sinnespsychol. (1907), hg. R. M. Chisholm/R. Fabian (21979) 143–156.
[30]
L. Wittgenstein: Tract. log.-philos. (1921) 2. 1.
[31]
a.O. 2.0212.
[32]
6. 54; vgl. C. A. Scheier: Wittgensteins Kristall. Ein Satzkomm. zur ‹Log.-philos. Abh.› (1991) 71.
[33]
Vgl. 4.1213.
[34]
Vgl. S. Buck-Morss: The dialectics of seeing. W. Benjamin and the Arcades project (Cambridge, Mass./London 1989) passim.
[35]
R. Kassner: Auge und Ohr. Merkur 7 (1953) 14–21.
[36]
F. Gundolf: Die Anfänge der dtsch. Gesch.schreibung (1938).
[37]
M. Merleau-Ponty: L'œil et l'esprit (Paris 1964) 17f.
[38]
a.O. 19f.
[39]
a.O. 81.